Ottessa Moshfeghs Roman „Lapvona“: Im Ausnahmezustand
Kannibalismus, Herrschsucht, Inzest: Ottessa Moshfegh verhandelt in „Lapvona“ menschliche Abgründe. Eine Autorin mit Lust an Überzeichnungen.
Bei Ottessa Moshfegh in Pasadena, Los Angeles County, ist es 8.45 Uhr. Mit wachem Blick schaut sie in die Laptop-Kamera. Sie möge die Morgenstunden, um Interviews zu geben, sagt die Schriftstellerin im Videochat, „da hat man noch nicht so viele andere Dinge im Kopf und kann sich auf die Fragen konzentrieren“.
Moshfegh sitzt vor einem Mosaikfenster in einem Zimmer ihres Hauses, 15 Kilometer von Downtown L. A. entfernt. Hier lebt sie in einem alten Natursteinhaus gemeinsam mit ihrem Mann Luke Goebel, ebenfalls Schriftsteller und Drehbuchautor, sowie ihren vier Hunden.
Von L. A. sei sie noch immer fasziniert, erzählt sie: „Es ist einer der am wenigsten konservativen Orte, die ich kenne. Wenn du durch die Stadt fährst, siehst du so viele verschiedene Lebensstile und Leute. Von den aufgemotzten Plastikmenschen, die wie wandelnde Instagram-Profile durch die Gegend laufen, bis hin zum Streuner im Zelt.“
Randfiguren, Outlaws, Außenseiter
Ottessa Moshfegh mag die Randfiguren, die Outlaws. Wenn man ihre bisherigen Erzählungen oder auch ihren neuen Roman „Lapvona“ gelesen hat, kann es daran keinen Zweifel geben. „Interessant wird es an den Rändern“, sagt Moshfegh im Gespräch, „vom Drama des Lebens erzählen die Außenseiter, die verbotenes Gelände betreten und außergewöhnliche Erfahrungen machen. Oder auch Menschen, die ganz normal aussehen, aber nicht normal sind – was auch immer ‚normal‘ bedeuten mag.“
Moshfegh formuliert sehr bedacht, manchmal legt sie mehrere Sekunden lange Pausen mitten im Satz ein, wendet den Blick zwischendurch ab, um nachzudenken.
Ottessa Moshfegh: „Lapvona“. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Hanser Berlin, Berlin 2023, 336 S., 19,99 Euro
Ihren Durchbruch hatte die US-Autorin 2018 mit dem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“. Er handelt von einer jungen New Yorkerin, die sich mit Schmerzmitteln, Barbituraten und Psychopharmaka wegknallt, um in einen Dauerschlaf zu fallen.
Auch die Geschichten in „Heimweh nach einer anderen Welt“ (deutsch 2020) handeln von Ausnahmezuständen: Es geht um Junkies in Kleinstädten, deformierte Heranwachsende und den Kampf mit ihren Körpern oder um einen vereinsamten, unattraktiven Midager, der sein Heil im zügellosen Sex mit Prostituierten sucht. Eine einsame alte Frau ist auch die Protagonistin des Romans „Der Tod in ihren Händen“ (deutsch 2021), eines Krimis oder besser einer raffinierten Krimiparodie.
Geschichte in mittelalterlichem Dorf
Auch ihr neuer Roman ist ein Mosaik schräger Gestalten, er ist eine Art Antimärchen, das im Mittelalter in einem kleinen Dorf namens Lapvona spielt. Lapvona wird von Fürst Villiam regiert, einem launischen Herrscher, der ein ausschweifendes Leben führt. Der unförmige und ungeliebte Dorffreak Marek stürzt den Sohn und potenziellen Nachfolger Villiams in den Tod – ausgerechnet er selbst wird daraufhin zum Ersatzsohn des Fürsten. Im Dorf kommt es derweil zu einer krassen Dürre, einem Überlebenskampf um die Ressource Wasser.
Einmal mehr fährt Moshfegh hier die ganze Palette menschlicher Abgründe auf: Kannibalismus, Gier, Herrschsucht, Inzest, Vergewaltigung, Mord, das alles kommt vor. Auch um Religion, Aberglauben, Verschwörerisches geht es, mit Ina gibt es eine Hexenfigur, die in der Lage ist, die Fruchtbarkeit der Dorfbewohner zu beeinflussen.
Auffällig ist bei Moshfegh oft die explizite Darstellung von Körperlichem, von dem, was gemeinhin als ekelig empfunden wird. „Ich will keine körperlosen Figuren in meinen Erzählungen, ich möchte, dass meine Figuren für den Leser plastisch werden, eine Dimension bekommen“, sagt sie.
Von Kritiker:innen wird Moshfegh zuweilen vorgeworfen, sie stelle das Krasse und Kaputte bloß aus, ohne mit ihren Figuren etwas erzählen zu wollen, ohne dass man sich mit ihnen identifizieren könne. Dem widerspricht sie implizit: „Es ist nicht so, dass ich über das Abscheuliche und Dunkle schreibe, weil ich es so sehr lieben würde“, sagt sie.
Auf der Suche nach Antworten auf Probleme
„Ich wollte in ‚Lapvona‘ vom Glauben erzählen. Jede Figur in diesem Roman hat ihre eigene Realität und ihren eigenen Gottesglauben. Meine Arbeitshypothese war: Wir brauchen einen Gott, der uns unser Leiden erklärt und durch den wir verstehen, wie und warum wir leben. Ich schuf also bewusst Figuren, die Schwierigkeiten haben und nach Antworten auf ihre Probleme und Fragen suchen.“
Als etwas schräge Parabel auf die Klimakatastrophe und die zerstörerische Kraft des ungebremsten Kapitalismus könnte „Lapvona“ auch ausgelegt werden. Gewollt sei das nicht gewesen, sagt Moshfegh, doch es gebe weitaus schlimmere Interpretationen als diese. Als Kalifornierin wisse sie aus erster Hand, was der Klimawandel bedeute, zumal in diesen Tagen, in denen in kurzer Zeit so viel Regen niederging wie sonst in mehreren Monaten. „Es ist sehr beängstigend“, sagt sie.
Ottessa Moshfegh wurde 1981 in Boston geboren, ihr Vater stammt aus einer jüdisch-iranischen Familie, ihre Mutter aus Kroatien. Sie studierte in New York und Rhode Island kreatives Schreiben, zeitweilig lebte sie in China, wo sie in einer Punkkneipe arbeitete. Zunächst schrieb sie Kurzgeschichten für Literaturzeitschriften, erst mit dem 2015 für den Man Booker Prize nominierten Roman „Eileen“ wurde sie bekannt.
Mit ihrem Buch „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ gewann sie viele Fans. Vier Jahre nach Erscheinen wurde der Roman gar zum Kultbuch und -objekt bei TikTok, die sogenannten Sad Girls beziehen sich auf sie, Moshfegh hält die Sad Girls dagegen eher für unfeministisch, wie sie kürzlich der Zeit sagte. Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet sie heute auch als Drehbuchautorin. Zuletzt schrieben die beiden das Script für den Film „Causeway“ (2022).
Zeitgenössische absurde Filme als Vorbild
Vielleicht sei „Lapvona“ auch deshalb etwas filmischer und visueller geraten als vorherige Werke, sagt Moshfegh. „Ich hatte die Filme von Ingmar Bergman im Kopf, vor allem den erschütternden Film ‚Die Jungfrauenquelle‘.“ Auch zeitgenössischere absurde Filme wie „The Lobster“ und „The Favourite“ von Giorgos Lanthimos hätten sie beeinflusst oder Klassiker von Robert Altman.
Den Gedanken, „Lapvona“ könnte von Regisseuren wie David Cronenberg, Lars von Trier oder David Lynch verfilmt werden, findet sie reizvoll: „Ich würde gern alle drei Versionen sehen. Ich schätze alle sehr.“
Sie kann sich dagegen nicht erinnern, welches Buch sie zuletzt gelesen hat – zum Lesen von Romanen fehle ihr schlicht die Zeit. Als einen wichtigen Einfluss hat sie einmal Charles Bukowski genannt. „Als ich anfing, Short Stories zu schreiben, hatte ich gerade seine Prosa entdeckt. Im Moment beschäftigt mich Bukowski aber nicht mehr so sehr“, sagt sie.
Doch dessen Haltung habe ihr einst imponiert: „Wie er sich über die Vorstellung lustig macht, Literatur müsse etwas Gehobenes, Kultiviertes sein, das fand ich toll. Und ich mochte die Einfachheit, den Humor.“
Humor und Freude am Splatter
Den Humor, die Lust zur Überzeichnung und die Freude am Splatter sollte man auch in Moshfeghs eigenem Werk nicht unterschätzen. In „Lapvona“ setzt sich die Figur Ina zum Beispiel irgendwann Pferdeaugen statt ihrer eigenen ein und nimmt sie nachts zum Schlafen heraus. Fast hat man den Eindruck, als baue Moshfegh bewusst solche Brüche und Kipppunkte ein, um jene zu irritieren, die nach einer allzu reinen Moral der Geschichte suchen.
Eher geht es ihr auch in „Lapvona“ um die überspitzte und drastische Darstellung einer Gesellschaftsform, wie sie in anderer Form noch heute existiert. Der Fürst könnte auch von so manchem Mogul oder Autokraten der Gegenwart ersetzt werden.
Auch das Spiel mit Genres gelingt Moshfegh gut: Nachdem sie in „Der Tod in ihren Händen“ mit Krimiklischees gespielt hat, sind nun Märchenklischees dran. Auch deshalb kann sich der Leser seiner Interpretation nie ganz sicher sein. Vielleicht ist es ja dieses Austesten des lesenden Gegenübers, das Moshfeghs Erzählungen auszeichnet.
Aus dem Studium des kreativen Schreibens habe sie mitgenommen, seiner ersten Idee und Intuition nicht allzu sehr zu trauen. „Was ich dort gelernt habe, ist: Schau immer, wie weit du es auf die Spitze treiben kannst, was der Stoff noch hergibt.“ Wenn Ottessa Moshfegh das nun so sagt, klingt es fast wie eine Drohung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge