Ostfriesland Versuch einer Annäherung aus dem Geist des Friesischen: Freesenbloud is keene Bottermelk
von Helmut Höge
Einmal fragte ich den langjährigen Bürgermeister von Emden, Alwin Brinkmann, was er gemacht habe, bevor er Bürgermeister wurde. Er antwortete, dass die bisherige ostfriesische Evolution vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter verlaufen sei. Er habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber „auch in Deutschland“, sagte Brinkmann. „Vier Jahre – in Köln, dann bin ich aber wieder zurück nach Emden gegangen.“
Deutschland und Ostfriesland wissen die Friesen also noch immer zu unterscheiden. Einige ältere Ostfriesen nehmen es den „Berlinern“ auch immer noch übel, dass sie von den Preußen vereinnahmt wurden. Ihr aufoktroyiertes Kaiser-Wilhelm-Denkmal im Zentrum verbannten die Emder 1918 sofort hintern Deich.
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Die Friesen im benachbarten Jeverland hatten mehr Glück: Sie gerieten an Russland – und Katharina die Große war weit. Nur einmal griffen die Kosaken ein – um die napoleonischen Truppen aus dem Jeverland zu vertreiben. Noch heute hängen alle russischen Zaren und Halbzaren im Schloss zu Jever.
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Wiewohl Bauern, Händler und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung – durch den Bau von Deichen gegen die Flut und von Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. „Mit einer seltsam sturen Leidenschaft versucht dieses stets entlang der Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk allen Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu bieten“, schrieb der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli im Corriere della Sera, nachdem er seinen Urlaub in Ostfriesland verbracht hatte. Inzwischen habe ihr „Projekt“ – über die Jahrhunderte hinweg – „etwas absolut Extravagantes“ im Sinne einer „poetischen Erfindung“, eines „Unternehmens von großer tragischer Thematik“ bekommen.
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Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses „armselige Volk“, das auf „hohen Erdhügeln“ in Schilfhütten lebt und mit „getrocknetem Kot“ seine kärglichen Speisen kocht, damit sich „ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen“. Bei Flut, „wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern, Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind“. Dennoch wollten die armen Friesen sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern unterwerfen: „wahrlich,“ schloss Plinius, „viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe“.
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Weil die Friesen bis zur preußischen Annexion aber frei blieben, wurden sie doch bald reich – und sind es im Grunde bis heute: Was in Emden als „soziales Problemviertel“ bzw. „Armengetto“ gilt, würde in Hamburg und Berlin durchaus als „Gated Community“ für Hochschullehrer durchgehen. Und als man ihnen ein Kontingent Russlanddeutsche aus Kasachstan zuteilte, wurde schnell bemerkt, dass die „Erdkontakt“ brauchen, woraufhin man ihnen einen Polder zuwies: ein Stück eingedeichtes Land, „dem Meer abgerungen“.
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Um Bürger Emdens zu werden, musste man mindestens eine Ziege besitzen, notfalls gab einem die 1833 gegründete Sparkasse einen „Not-Kredit“. Die Friesen erledigten als Freie zusammen mit den Juden und den Wikingern im Reich Karls des Großen den Handel, er erstreckte sich bis nach Bagdad. Die Hafenstadt Emden wurde durch den Chinahandel und die Fastenspeise Hering reich.
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Aber wo und was ist Ostfriesland heute? Gibt es das überhaupt noch? „Von der früheren politischen Einheit Ostfriesland ist heute ein Landschaftsverband übrig geblieben,“ heißt es auf Wikipedia. Zwar hat die Region die höchste Geburtenrate in Deutschland, aber die Bevölkerung (nur 465.000 Menschen auf 3144 Quadratkilometern) nimmt dennoch ab. Seehandel, Landwirtschaft und Fischerei sind nicht mehr lukrativ. Der Tourismus geht seit dem Mauerfall und den Billigflügen zurück, außerdem konzentriert er sich auf einige Orte und Inseln, die dadurch zu überkandidelten Puppenstuben werden, wobei sie sich – wie im idyllischen Fischerhafen Greetsiel – in Bewohner spaltet, die vom Tourismus profitieren, und solche, die darunter leiden.
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Aus Nordrhein-Westfalen ziehen nicht erst seit gestern Rentner nach Ostfriesland. Als fremdenfreundliche Küstenbewohner kommen und bleiben noch ganz andere. 1968 schickte der Schah von Persien eine Gruppe Landsleute zur Ausbildung auf eine Emder Werft, von denen einige noch heute in der Stadt leben. Und es gefalle ihnen hier gut, erzählte mir einer. Von einem Palästinenser, der als Kapitän eines Schiffes Butterfahrten für Schnäppchenjäger unternahm, wofür er auf der anderen Seite des Dollart jedes Mal kurz Holland „anticken“ musste, erfuhr ich Ähnliches. An eines allerdings könne er sich hierzulande nie gewöhnen: Wenn er in Jeans und T-Shirt am Fallreep stehe und die Passagiere begrüße, würden sie ihn kaum wahrnehmen, aber wenn er dann an Bord seine Kapitänsuniform trage, würden sie alle um ihn herum schlawenzeln.
Bestätigt wurde mir dieses Verhalten später aus berufenem Munde im Rathaus. Ich erfuhr dort, dass die Emder an den Ampeln bei Rot alle stehen bleiben und bei Grün die Straße überqueren. Ich war selbst von Passanten dazu angehalten worden und nickte deswegen, worauf mein einheimischer Informant meinte: Das sei aber nicht immer gut, denn sie würden auch bei Grün einfach losgehen, wenn Glatteis sei und die Autos nicht rechtzeitig bremsen könnten. Zum Glück gebe es nur selten Glatteis in Emden, fügte er hinzu.
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Aber war dieses autoritäre Verhalten wirklich eine regionale Besonderheit? Dann doch eher, dass im „Ausland“ reich gewordene Ostfriesen, Henri Nannen und der Komiker Otto zum Beispiel, oft und gerne fürs Gemeinwohl spendeten, dass der örtliche Unternehmerkreis sich „Club zum guten Endzweck“ nennt, dass die Emder Volkshochschule das größte Gebäude in der Stadt hält, dass es im Küstenort Norden eine große mennonitische Kirche gibt und im Zuge der „Emder Revolution“ 1595 schließlich die „Bibliothek der Calvinisten“ dort hinkam, weswegen man die Stadt auch das Genf des Nordens nennt.
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In einem Vortrag über „Die große und die kleine Welt“ – gehalten auf dem 15. Friesenkongress im ostfriesischen Aurich – bezeichnete der Philosoph Hermann Lübbe den „Regionalismus“ als das „Ringen um Heimat“, dem eine wichtige kompensatorische Funktion angesichts der sich beschleunigenden „zivilisatorischen Innovation“ zukomme. Ihm widersprach in der Zeitschrift Nordfriesland der Kieler Soziologiestudent Harm-Peer Zimmermann, der eine „Analyse des Wesens des Heimatgefühls“ sowie eine „historische Ableitung der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung“ des von Lübbe konstatierten „Vertrauensschwunds“ und „Identitätsverlusts“ vermisste. „Wie in Gorleben“, behauptete der Student, „so entsteht Identität überall in der Auseinandersetzung mit dem Alltag. Das Glück stellt sich nicht durch einfache Erinnerung der Vergangenheit ein.“ Das war damals durchaus klassenkämpferisch gemeint und richtete sich gegen alle „Musealisierungen“, um noch mehr Touristen einzuwerben.
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Auf der anderen Seite des Dollart hat dann der holländische Schriftsteller Geert Mak die Konsequenzen daraus ausgelotet – am Beispiel eines westfriesischen Dorfes. Seine Studie hat den Titel: „Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Der Untergang des Dorfes in Europa“. Zuletzt hätten dort immer mehr Menschen ihren Reichtum „durch Worte, durch Papier und abstrakte Geschäfte“ erworben. Es wurde „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“. Feriendörfer, Yachthafen, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village.
Die Hauptstadt Westfrieslands, Leeuwarden, hat eine „Fryske Akademy“. Einem der Vorstandsmitglieder wurde von dem aus Friesland ausgewanderten Redakteur der New Yorker Zeitung Frisian Roundtable die Frage gestellt, ob denn wenigstens „unser inneres Friesland überleben“ werde? Ihm wurde geantwortet: „Wenn das Eigene ausschließlich auf die Sphäre der privaten Liebhaberei beschränkt bleibt, ist es eine verlorene Sache.“
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Das Land der Friesen war allerdings immer wieder durch Sturmfluten bedroht, es wurde ihnen sogar genommen. Und das ist bedeutungsvoll. Bei großen seelischen Leiden oder einer gewissen Leere geht man in Friesland auf den Deich und blickt stumm über das graue Meer – am liebsten bei Sturm. Also ganz anders als die Leute in Wien, die sich hysterisch auf der Couch wälzen und wie blöd verbalisieren.
An der eingedeichten Küste ist es nicht der Mensch, der aufgewühlt ist, sondern das Meer, was eine ähnlich kathartische Wirkung hat wie bei Aristoteles die Tragödie. Wenn nach Roland Barthes das Kino die Couch der Armen ist, dann ist für die Friesen der Deich so etwas wie eine Couch: „Wo Blanker Hans war, soll Koog werden!“
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Heute entstehen an der Küste immer mehr Naturschutzgebiete und Nationalparks. Und schon spaltet sich auch hier die betroffene Bevölkerung: In Ostfriesland unter anderem in Naturschützer und Jäger. Die Gänsejagd ist ein altes friesisches Recht, der Gänseschutz kommt dagegen neupreußisch mit Gesetzen daher. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Von Schwarzen Listen und Denunziationen bis zu wissenschaftlichen Gutachten. Der NDR spricht von einem „Gänsekrieg“. Es gibt die Region also noch.
Helmut Höge ist Aushilfshausmeister der taz. Als Autor schreibt er über Tiere („Kleiner Brehm“), die Friesen und anderes.
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