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Ostabwicklung, Fortsetzung folgt

■ "Endstation Elend?" - ARD-Reportage über eine Leipziger Gerichtsvollzieherin (21.40 Uhr)

„Leipzig kommt!“ lautet die Imagekampagne des Magistrats. Immobilienhaie und Gewerbetreibende sollen damit nach Sachsen gelockt werden. In seiner Reportage „Endstation Elend? – Die Gerichtsvollzieherin“ ging Martin Keßler der Sache nach. Tatsächlich: Leipzig kommt – unter den Hammer. Allwöchentlich werden Anwohner auf die Straße gesetzt. Sie können die explodierenden Mieten nicht mehr zahlen. Aus Bürgern werden Schuldner. Offene Rechnungen bei Versandhäusern, nicht gezahlte Autoraten, Bankschulden. Das Konsum- Strohfeuer nach der Wende ist für viele zur Agonie lebenslänglicher Verschuldung verpufft.

Keßler hat die Leipziger Gerichtsvollzieherin Gabriele Förster mit der Kamera mehrere Tage bei der Arbeit begleitet. In papageienbunter Biker-Kluft radelt sie durch Leipzig. Sie ist eine von den netten, bemüht sich um ihre „Kunden“, berät sie beim Ausfüllen amtsschimmeliger Formulare und schaut, wo man noch einen Aufschub erwirken kann. Ihr menschliches Auftreten bedingt teilweise der pure Sachzwang. Denn im Gegensatz zu einem Kaufmann bleiben Gabriele Förster ihre Kunden treu. Ein gutes Auskommen erleichtert da die Abwicklung. Die Grenzen zur Sozialarbeit sind zynischerweise fließend.

Die finanzielle Situation und die Perspektiven ihrer Kunden kennt Gabriele Förster so gut wie niemand sonst. „Natürlich haben die Leute mit Schuld“, sagt Frau Förster. „Sie haben aber keine Chance mehr, irgendwie rauszukommen. Es heißt zwar, jeder kann arbeiten, wenn er will. Aber hier in Leipzig? Nee.“ Obwohl ihr Bezirk von 60.000 auf 20.000 Einwohner reduziert wurde, wächst der Arbeitsaufwand ständig. 14 Stunden dauert ihre Regelarbeitszeit. „Aufschwung Ost“ – das klingt für Gabriele Förster wie „Deutschland – ein Wintermärchen“. In der Leipziger Pfandkammer stapeln sich Videorekorder, Lederjacken und allerlei Hausrat bis zur Decke. Denn mehrmals im Monat wird zwangsgeräumt. Was das bedeutet, führt der Film in selten gesehener Drastik vor Augen. Keßler dokumentiert hier Psycho-Horrorbilder, gegen die selbst „Das Schweigen der Lämmer“ harmlos wirkt: Nach mehrmaligem Klopfen öffnet eine Frau mit wirrem Haar die Tür. Sie widersetzt sich dem Räumungskommando, beginnt zu schreien und droht mit Selbstmord. Ihr Sohn hat eine Schußwaffe. Mit Polizeiverstärkung kehrt Gabriele Förster wieder und läßt die Tür gewaltsam öffnen. Mutter und Sohn sind weg. Die 91jährige Großmutter sitzt zwischen Bergen von Müll, Meerschweinchenkäfigen, Plüschtieren und Katzenkot. Sie schreit um Hilfe. Sanitäter werden herbeigerufen, Möbelpacker schleppen den Hausrat auf den Müll, ein Tierfänger angelt nach der Katze.

Gut ein Dutzend Leute arbeiten einen Tag an der Räumung, die bestimmt mehr kostet als die eingeklagte Miete. Die Prozedur ist in vollem Gang, da kehren Mutter und Sohn zurück. Ein Handgemenge im Hausflur, fünf Beamte überwältigen die beiden. Kurze Zeit später ist ihr Widerstand gebrochen: „Ich bin schuld“, sagt die Mutter zu ihrem Sohn, „ich hab' dich in die Welt gesetzt.“

In einer Gewährleistungswohnung des Sozialamtes finden sie ein paar Tage Unterschlupf, bis über ihr weiteres Schicksal entschieden ist. „Ein besonders krasser Fall von sozialer Verelendung“, sagt Gabriele Förster. „Aber bei weitem kein Einzelfall.“

Die Verschuldung des Ostens hat längst Westniveau erreicht. Über tausend derartige Räumungstitel verfügt Leipzigs kommunale Wohnungsgesellschaft LWB. Während der Zwangsräumung bleibt die Kamera dicht dran, greift aber nicht ein. Martin Keßler läßt die rohe, brutale Prozedur in ihrer ganzen Zerfahrenheit stehen und setzt den Zuschauer der Situation regelrecht aus. Die Bilder wirken wie ein Schlag ins Gesicht. So wird Fernsehen zur Konfrontation, die Voyeurismus ausschließt. Vergleichbare Sendungen bei RTL oder Sat.1 würden den Betroffenen – im Namen der Stoiberschen „Vielfalt“ – an derartig dramatischen Stellen O-Töne abfordern und die dokumentierte Realität damit zur Melodramatik entschärfen. Die Privatfernsehen-Ästhetik bringt Menschen vor der Kamera in präzise definierten Handlungskontexten jeweils so zum Reden, daß sie Rollen übernehmen und eine Dramaturgie ausfüllen wie in einer Soap-opera. Eine doppelte Entwürdigung. Manfred Riepe

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