Osnabrücker Ausstellung „Enttäuschung“: Verhoben am großen Ansatz
Die neuen Leiterinnen der Kunsthalle Osnabrück wollen Hemmschwellen abbauen. Mit ihrer Auftakt-Ausstellung „Enttäuschung“ gelingt genau das nicht.
Ihr Ausstellungsprojekt „Enttäuschung“, ihr Auftakt im neuen Job, weckt jedoch Zweifel, ob das stimmt. Website, Flyer, Reader, Lageplan und Plakat errichten eine Blockade, die so abschreckend ist wie die Eismauer, die in Game of Thrones die Sieben Königslande von den Wildlingen trennt: Design-Snobismus mündet in Dysfunktionalität. Endlose Textwüsten erstrecken sich vor uns in unterschiedlichsten Schriftarten und -größen, durchsetzt von sinnfreien Grafikelementen. Jede Information will gesucht, enträtselt, erkämpft werden. Ermüdend ist das, verwirrend. Gedankensplitter wie „implodierendes Konglomerat ohne Artgrenzen“ spreizen sich, und wer nicht mindestens einen Dr. phil. auf der Visitenkarte hat, hat es schwer.
Gut, zumindest online lässt sich das Design-Geflirre ausschalten und eine Option auf leichte Sprache an, aber viel hilft das nicht. „Es geht uns nicht darum, ein Ort leichter Konsumierbarkeit zu sein“, sagt Juliane Schickedanz. „Wir zeigen dadurch, dass unser Haus in Sachen zeitgenössischer Gestaltung mitspielen kann.“ Vor Osnabrück war sie, wie Jehle, in Leipzig. Fun Fact am Rande: Der dortige „Verein für zeitgenössische Kunst“ führt beide als „Friendly Fire“ – was sich nur jemand ausgedacht haben kann, der nicht weiß, was das im Nato-Jargon bedeutet: den irrtümlichen Beschuss von Streitkräften der eigenen Seite.
Ein Dreivierteljahr hat die Vorbereitung von „Enttäuschung“ gedauert. „Potenziale der kritischen Gewahrwerdung“ beleuchten Schickedanz und Jehle darin, und wenn sie darüber reden, klingt das oft ziemlich apodiktisch.
Fangen wir mal bei den 15 Hühnern der „Crisis Communication“ an. Ein Bretterhäuschen hat Rosalie Schweiker ihnen in den Innenhof der Kunsthalle gestellt, umgeben von 70 Kubikmetern apokalyptisch nackter Erde. Irgendwas über Selbstversorgung soll uns das sagen, über das „Zusammenleben in der Gemeinschaft“. Strohballen stapeln sich in der Kunsthalle, Futtermittelsäcke, daneben stehen Gummistiefel, Besen, Schaufeln. Alle paar Schritte stößt der Betrachter auf kniehohe Klumpen aus Pappmaché und Hühnerdraht, angeblich Wegweiser, auf denen, sehr zu Recht, Sachen stehen wie „WTF is this?!?“. Alle paar Schritte erwartet uns ein Türmchen aus Zetteln, und wer von allen ein Exemplar mitnimmt, mit viel Text drauf natürlich, Dialogfetzen wie „Wir existieren, um abzulenken“ etwa, kann sie sich am Ende zusammenleimen lassen.
Wer am Eingang keinen Lageplan mitnimmt, ist verloren. Wo welche Präsentation beginnt und endet, wie sie heißt, von wem sie stammt, was sie bezweckt, ist in der Halle selbst nirgendwo notiert. Aber auch wer ihn mitnimmt, kommt ins Grübeln, und das nicht produktiv. Position 15, der Trailer zu Jovana Reisingers Videoserie „Men in Trouble“? Falsch eingezeichnet. Der Ausgang? Gar nicht eingezeichnet. Ärgerlich.
Reisingers rosafarbenes Film-Set, dessen vier Meter hohes Obergeschoss die Fenster des mittelalterlichen Kirchenschiffs, das den Hauptraum der Kunsthalle bildet, spannenderweise wie Türen wirken lässt, ist ein Eyecatcher: Riesige Treppen, Glitzervorhänge, Scheinwerfer, durchsichtiges Gestühl. Sechs Episoden für Reisingers Talkshow „Men in Trouble“ werden hier gedreht – es geht um Geschlechterrollen, Machtmissbrauch, Schönheitsstandards, Intoleranz. Ohne rosafarbene Schuhüberzieher hat niemand Zutritt, und wer sie sich eigenhändig überstreifen will, muss ziemlich insistieren. In der dunklen, labyrinthischen Unterwelt des Gerüstmonsters laufen ältere Filme von Reisinger. Aus denen lernen wir dann, zum Beispiel, dass Frausein eine „klaffende Wunde“ ist.
Und dann sind da noch David Polzins Sitzmöbel der Installation „Ossi Osnabrück“, zu Dutzenden auf Regale gereiht wie in einem Museumsmagazin – teils leider so hoch, dass man sie nur von unten sieht. Angeblich geht es bei ihnen um eine „Erinnerung an die ehemalige DDR“, um die Marginalisierung ihrer Designgeschichte durch den Westen, eine, wie Polzin sagt, „Enttäuschung mit der Wiedervereinigung“.
In Wahrheit ist alles fake, auch die Designernamen. Klar: Skurrilitäten, auf denen niemand sitzen kann, Beschriftungen wie „echte, nachempfundene Replika“ signalisieren: Wer dies betrachtet, braucht Sinn für Ironie. Aber warum dann zugleich diese angebliche deutsch-deutsche Bedeutungsschwere? Eine Aussage „auch über Machtstrukturen“ sei das, sagt Polzin. Dass die Regale „ganz bewusst schlampig“ zusammengefrickelt sind, sei künstlerische Absicht, sagt Schickedanz, und nicht dem Umstand geschuldet, dass sie zwei Tage vor Eröffnung noch nicht fertig waren.
Interdisziplinär werde ihr neues Programm sein, prozessual, kollaborativ, sagen Schickedanz und Jehle. Gut, das hat es auch schon unter ihrer Vorgängerin Julia Draganović gegeben, heute Direktorin der Villa Massimo in Rom – und unter Draganovićs Vorgänger André Lindhorst, ohne den es die Kunsthalle nicht gäbe. „Wir setzen den guten Weg mit neuen Akzenten fort“, sagt Stadtrat Wolfgang Beckermann, zuständig für Kultur. So hatte es sich auch schon bei Draganovićs Dienstantritt angehört, 2013. Sichtbarkeit erhöhen, Profil schärfen. Was man eben so sagt bei solchen Gelegenheiten.
„Enttäuschung“: bis 14. Februar 2021, Kunsthalle Osnabrück;
„Enttäuschung“ bringt sich selbst zu Fall: Der Anspruch ist so übergroß, dass die reale Wirkung dagegen verblasst. Bleibt die Frage, warum das halbe Kirchenschiff leer ist. Vielleicht für die Lesungen und Vorträge, für Workshops zu Themen wie Latex-Suppe, Bodyhacking, Unfit Make-Up?
Damit „Enttäuschung“ nicht allzu statisch wirkt, wird Polzin Mitte Oktober gegen Mickey Yang ausgetauscht, Yang Anfang Dezember gegen Aleksandra Domanović. Schweikers Hühnerhof allerdings hält die volle Laufzeit durch, ebenso wie Reisingers rosafarbene Bühne.
Über Rechtspopulismus und Religion schreiben Jehle und Schickedanz in ihrem Reader zu „Enttäuschung“ essayistisch, über Neoliberalismus und Klimawandel, Kapitalismus und Corona, Feminismus und schablonenhafte Repräsentationspolitik. Wer all das in „Enttäuschung“ zu finden versucht, hat es schwer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett