: Oscars bescheidener Bruder
Am Freitag wird in Marl zum 37. Mal der Adolf Grimme Preis verliehen, die offiziöseste Auszeichnung unter den deutschen Fernsehpreisen. Doch längst regt sich Konkurrenz. Das beginnt man mittlerweile auch im nördlichen Ruhrgebiet zu ahnen
von STEFFEN GRIMBERG
Nach Marl zu kommen ist gar nicht so einfach. Wer über die eingleisige Personenzugstrecke zwischen Essen und Haltern, vor einiger Zeit großzügig zur S-Bahn aufgewertet, aber immer noch nur einmal pro Stunde bedient, glücklich am Haltepunkt Marl-Mitte anlangt, steht vor dem Marler Stern. Der künstlichen Mitte dieser Hybridstadt. Einem Einkaufszentrum, das mit seinem Luftkissendach allen inneren Modernisierungsanläufen zum Trotz nie wie eine frühe Mall, sondern immer wie denkmalgeschützte Siebzigerjahre aussehen wird. Vermutlich ist es sogar denkmalgeschützt, zumindest das Dach.
Vom Marler Stern zum Adolf Grimme Institut (AGI) sind es dann nur noch ein paar Minuten zu Fuß, vorbei am Skulpturenmuseum im Glaskasten und dem Vollbetonrathaus. Marl im März, das bedeutet aber unweigerlich Nieselregen, und so erreicht man das Institutsgebäude klammen Schrittes.
Seit 28 Jahre gibt es das AGI, das Gebäude ist deutlich älter: eine neusachliche Konstruktion der später Fünfziger, „insel“ steht noch über dem Eingang. Auf dieser Insel wurde er geboren, der Adolf Grimme Preis, der am kommenden Freitag zum 37. Mal verliehen wird. Gestiftet hat ihn 1964 der Deutsche Volkshochschulverband, auf Initiative der „insel“, der in Sachen Erwachsenenbildung und damalig „neuer“ Medien äußerst aktiven Marler Volkshochschule. 1973 entstand um den Preis herum das Institut gleichen Namens: Für den Industriestandort Marl ein Bekenntnis zum kulturellen Aufbruch, für die aus diversen Siedlungen eher willkürlich zusammengewürfelte Stadt ein Prestigeobjekt von nationaler Strahlkraft.
Dass man auch heute noch den „deutschen TV-Oscar“ (so schreibt gerade mal wieder die aktuelle Hör zu) hier, in der Abgeschiedenheit des nördlichen Ruhrgebiets, aushandelt und in angemessen bescheidenem Rahmen feiert, sei eine unbedingte Stärke, sagen die einen. So ließ sich allen Fernsehkonjunkturen zum Trotz die unbedingte Unabhängigkeit des Preises wahren, nur so bliebe der auch für abseitige, unzeitgemäße Stücke offene Blick gewährleistet. Andere machen genau hier die Schwächen aus: Zu abgeschieden von der wahren, schnellen, bunten TV-Welt, zu verwurzelt in der eigenen Tradition als Fernsehpreis des Bildungsbürgertums, immer noch – und in diesem Jahr wieder besonders – zu voreingenommen zugunsten von ARD und ZDF, lautet die Kritik. Und: Seit der Stiftung des Deutschen Fernsehpreises 1999 durch die öffentlich-rechtlichen Sender im Verbund mit RTL und Sat.1 sei Grimme haushohe Konkurrenz gewachsen, mit der sich das Institut nicht offensiv genug auseinander setze.
Recht haben wie immer beide Seiten. Wenn sich Ulrich Spies, seit genau zwanzig Jahren der verantwortliche Referent für den Adolf Grimme Preis, über die „deutliche, sich nach unten öffnende Geschmacklosigkeitsskala“ im Fernsehen ereifert und im gleichen Atemzug das Fernsehjahr 2000 dann doch als „goldenen Jahrgang“ preist, liegt das Dilemma auf der Hand. Doch bei allem Strukturkonservatismus hat sich der Grimme-Preis den Blick für das Ungewohnte, das Schräge bewahrt. Nominiert Viva 2-Moderatorinnen und Experimentelles genauso wie die öffentlich-rechtliche Großserie und das Fernsehspiel – um im Zweifelsfall beide leer ausgehen zu lassen: Die „Jahrestage“, das ARD-Prestigeprojekt nach der Vorlage von Uwe Johnsons deutschfamiliärer Saga, stehen am Freitag nicht auf der Bühne des Marler Stadttheaters, wenn Roger Willemsen die Grimme-Preise 2001 verteilt. „Fleiß und Durchhaltevermögen zeichnen wir nicht aus“, heißt es süffisant aus der Jury. Dass sich der Deutsche Fernsehpreis im Herbst der „Jahrestage“ annehmen dürfte, steht dagegen außer Zweifel.
Genau hier liegt das eigentliche Dilemma der Institution Grimme. Dass in seiner Jury zum Teil dieselben RichterInnen sitzen wie in der Jury des Deutschen Fernsehpreises, ist dabei nur auf den ersten Blick problematisch. Viel schwerer wiegt ein anderer, echter Widerspruch: Vom Konzept ist der Adolf Grimme Preis eine extrem offene, publikumsnahe Veranstaltung: Vorschlagberechtigt ist jedermann, ganz normale ZuschauerInnen können und sollen ihre Favoriten für Marl benennen. In drei Sichtungsrunden – ja, in Marl wird noch kollektiv ferngesehen – werden aus diesen Vorschlägen die eigentlichen Nominierungen festgelegt, aus denen sich dann die Jury die Preisträger erwählt. Ausgezeichnet wird Programm als Gesamt(kunst)werk, nicht die Einzelleistung von DarstellerInnen, RegisseurInnen oder ProduzentInnen. Und selbst ein reiner Kritikerpreis ist Grimme bei weitem nicht: Zwar dominieren in den Nominierungskommissionen wie in der Jury die professionellen Fernsehgucker, daneben sitzen dennoch wie vor dreißig Jahren Delegierte der Volkshochschulbewegung als VertreterInnen der „normalen“ Zuschauer.
Ganz anders der Deutsche Fernsehpreis: Hier haben die deutschen TV-Sender und eine Vorauswahljury das Vorschlagrecht, die JurorInnen stammen alle aus dem Lager der ChefredakteurInnen, PublizistInnen und KritikerInnen. Was sie bewerten, sind in über zwanzig Kategorien aufgefächerte Einzelleistungen – vom „Besten Fernsehfilm“ über „Beste Nebenrolle/Serie“ hinuntergebrochen bis zu technischen Disziplinen wie Kamera, Schnitt und Szenenbild.
Nun mag sich der Deutsche Fernsehpreis als Branchenpreis verstehen, der Grimme-Preis seinen Charakter als Publikumspreis betonen: In der öffentlichen Wahrnehmung dreht sich die Bewertung um, herrschen spiegelverkehrte Welten: Denn der „Branchenpreis“ feiert sich als den eigentlichen deutschen TV-Oscar – mit abendfüllender Gala zur besten Sendezeit nebst herzigem After-Show-Geplänkel am Buffet. Ein Muss für die Branche, sicher. Aber dadurch eben auch ein Star- und Sternchen-Fest, das RTL in den letzten beiden Jahren mit viel Anlehnung an Hollywood leidlich in Szene gesetzt hat.
Auch die Grimme-Preisverleihung wird im Fernsehen übertragen, und das immerhin schon seit 1989. Doch aus dem Marler Fernsehfest kann, will und darf kein quotenträchtiger Glanz entstehen, und so läuft es derzeit auf 3sat, zeitversetzt am späten Abend. Natürlich hat dies auch mit dem lieben Geld zu tun: Wo Grimme mit rund 700.000 Mark für die Gesamtabwicklung des Preises auskommen muss, hat die Konkurrenz nach Branchenschätzung bis zu vier Millionen Mark im Etat.
„Der Adolf Grimme Preis bräuchte eine andere Präsentation im TV-Programm“, meint auch der scheidende Institutsleiter Hans Paukens. Doch nicht die unterschiedliche TV-Präsenz, wiewohl sie natürlich den Bekanntheitsgrad der Auszeichnung deutlich beeinflusst, ist das größte Problem für den Grimme: Vielmehr wird das Potenzial des Preises am Institut nicht ausgeschöpft – dieser Sicht stimmt sogar Paukens zu. Da gibt es nach Jahren endlich wieder Ansätze zu einer öffentlichen Debatte über Fernsehen und Programm – zu „Big Brother“ und Reality-Welle, zu Quotenwahn und „Süßstoffoffensiven“ bei den Öffentlich-Rechtlichen. Doch die Beteiligung aus Marl blieb dünn. „Man muss sich häufiger zu Wort melden“, hat Paukens erkannt, nur umsetzen ließ sich dies bisher anscheinend wenig.
Branche wie Öffentlichkeit haben sich in langen Jahren vielmehr daran gewöhnt, von Grimme einmal im Jahr zu hören– dann aber bitte mit einer umfassenden Bestandsaufnahme, stets geprägt vom „ewigen Spannungsfeld der in den Statuten vorgesehen Popularität des Preises, die durch die Orientierung aufs Elite-Fernsehen gleich wieder konterkariert wird“ (Grimme- und Fernsehpreis-Jurorin Klaudia Brunst).
Dabei findet die Diskussion vermutlich sogar statt, aber eben hinter den Türen der Kommissionen von Marl, in einer Viertelöffentlichkeit, die wegen ihrer Besetzung mit professionellen TV-KritikerInnen durchaus Einfluss auf den weiteren Gang der Debatte hat, aber auch über fehlende intellektuelle Impulse aus dem Institut klagt. Der alte Medienverbund, der die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen gemeinsam mit der „Volkshochschule“ – also im weitesten Sinne interessiert-engagierten ZuschauerInnen – betreibt, wird so aber weiter ausgehöhlt. Dabei liegt hier, in der kontinuierlichen Programmbeobachtung und Kommentierung, die große Chance und Aufgabe für den Adolf Grimme Preis und das gesamte Institut. Eine Aufgabe übrigens, bei der der Preis seine liebgewordene Rolle als Traditionshüter des Fernsehens nicht einmal aufgeben müsste – und die ihm der Deutsche Fernsehpreis wohl kaum streitig machen wird. Und eine Aufgabe, bei der der Standort Marl trotz eingleisiger Bahnanschlüsse kaum hinderlich sein dürfte, sondern die das Verhältnis zwischen Grimme-Preis und TV-Branche sogar noch befördern könnte. Denn da gilt weiterhin: Jeder will ihn haben – aber keiner will nach Marl.
STEFFEN GRIMBERG, 33, ist taz-Medienredakteur und passionierter Bahnfahrer
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