Ortstermin auf dem Schlampenmarsch: Die Macht über Frauen brechen
In mehreren Großstädten demonstrierten am Samstag Tausende auf "Schlampenmärschen" für selbstbestimmte Kleidungswahl. Das ist nicht immer ganz leicht.
BERLIN taz | Annika und Jasmin stehen oben ohne inmitten einer Menschenmenge in der Berliner City-West. Ihre Brustwarzen haben sie mit Klebeband abgedeckt, dazu tragen sie schwarze Röcke und dezentes Make-Up. Für die beiden zwanzigjährigen Studentinnen ist der Berliner Slutwalk, zu dem sie sich am Samstagnachmittag mit rund 3.000 weiteren DemonstrantInnen versammelt haben, das erste öffentliche feministische Engagement ihres Lebens.
Die Kunstgeschichts- und die Tiermedizinstudentin wollen aber nicht nur für die ursprüngliche Idee des Schlampenmarsches – das Recht auf selbstbestimmte Kleidungswahl, ohne im Falle einer demütigenden Anmache oder einer Vergewaltigung dafür verantwortlich gemacht zu werden – demonstrieren.
Sie protestieren auch, weil sich bei den Frauen ihrer Generation wieder ein Gefühl von "Heim an den Herd" breitmache. Sie berichten von Altersgenossinnen, die "einfach nur geheiratet werden" wollen – und über ihr Unverständnis darüber.
In Berlin waren nach Angaben der Polizei mindestens 1000 Menschen dabei - die Veranstalter schätzten 3000 -, in Hamburg etwa 450, in München gut 350, in Frankfurt und Dortmund jeweils etwa 250, in Köln und Stuttgart ein paar Dutzend, wie die Polizei angab. Aufrufe hatte es auch in weiteren Städten gegeben.
Die Demos dieser Art haben ihren Ursprung in Kanada. Im Frühjahr hatte ein Polizist in Toronto bei einem Auftritt an der Universität Frauen geraten, sich nicht wie "Schlampen" anzuziehen, wenn sie nicht Opfer sexueller Gewalt werden wollten. Einige Studentinnen gingen danach empört auf die Straße. (dpa)
Bitte kein PorNo
Über den Popstar "Pink" begannen Annika und Jasmin sich vor einigen Jahren für die Riot-Girl-Bewegung zu interessieren und forschten in der Geschichte des deutschen Feminismus. Durch die Zeitschrift Emma und Alice Schwarzer fühlen sie sich nicht repräsentiert, sie wollen ein neues feministisches Selbstbewusstsein. "Dieser Männerhass ist total überholt, genauso wie die PorNo-Bewegung", sagt Annika, "ich will doch nicht immer ein schlechtes feministisches Gewissen haben, wenn ich einen gutgemachten Pornofilm anschaue und mir das gefällt."
Die beiden hoffen, dass die weltweiten Slutwalks eine neue Welle der Frauenrechtsbewegung anstoßen, die das Engagement gegen Ungleichbehandlung auch für junge Frauen wieder "schmackhaft macht". Es sei "eine Katastrophe", dass Frauen bei gleicher Qualifikation in Deutschland immer noch weniger verdienen und die junge Generation das einfach so hinnehme oder sich aus Resignation wieder in die Hausfrauen- und Mutterrolle flüchte.
Sexualität ohne Angst ausleben
Micha, 47, trägt lange schwarz-violette Haare und eine schwarze Lederkorsage. Er will vor allem dafür demonstrieren, dass alle Menschen ihre Sexualität ohne Angst vor Übergriffen, schiefen Blicken und Beleidigungen ausleben dürfen. Die "Queer Crips", eine Gruppe körperbehinderter Menschen mit queerem Hintergrund, sind ebenso vertreten wie junge Lesben, schwule Männer und AktivistInnen für bessere - oder überhaupt eine - lustorientierte Sexualerziehung an den Schulen.
Nur wenige der etwa 350 Protestierenden waren in aufreizender Kleidung gekommen. Die sahen sich aber schon bald von zahlreichen Schaulustigen mit Handykameras umzingelt. Offenbar hatten viele Münchner die Demonstration als Einladung zur Fleischbeschau begriffen.
Während die Rednerinnen also via Lautsprecher anmahnten, dass ein Vergewaltigungsopfer niemals Schuld an einem gewaltsamen sexuellen Übergriff trage und dass Frauen in aller Welt das Recht hätten, sich zu kleiden, wie sie wollen, sahen sich einige der DemonstrantInnen genötigt, sich lautstark gegen unerwünschte Paparazzi zur Wehr zu setzen.
"Das Männer geifernd um uns herumstehen und ihre Objektive auf uns halten, ist auch eine Form sexueller Gewalt", sagte Veronika Dimke, eine Demonstrantin, die nicht im Schlampenlook erschienen war. "Wenn alle diese Fotografen tatsächlich von der Presse sind", spottete Dimke, "dann ist uns weltweite Berichterstattung garantiert." (maha)
"Es geht uns auch darum, dass die Vielfalt der Sexualität gelehrt wird, darum, dass gegenseitiges Einverständnis vorausgesetzt werden muss, bevor es zum Sex kommt, und um die Aufklärung, dass jeder Körper verschieden aussieht", sagt Alice, 50, die schon in den 1970ern für Frauenrechte auf die Straße ging. Sie macht sich Sorgen um junge Frauen, die sich auf eine vermeintliche Idealfigur runterhungerten, um den Trend, sich die Schamlippen verkleinern zu lassen, damit ein durch Pornos geprägter Idealzustand der weiblichen Geschlechtsorgane erreicht werde.
Alarmierend findet sie den in Deutschland neuen, in islamischen Ländern schon lange existierenden Trend, sich vor der Ehe das Hymen rekonstruieren zu lassen: "Sexuelle Ethik muss in der Schule ein Thema werden." Wer sich dazu beraten lassen will, bevor es in den Lehrplänen steht, den lädt Alice in den frauengeführten Sexshop "Sexclusivitäten" ein, in dem Workshops zum Thema "weibliche Prostata", "das lachende Becken" und Paar-Sex-Beratung angeboten werden.
Ein schnelles Foto mit dem Handy
Als die Demonstration durch ein von vielen türkischstämmigen Migranten bewohntes Viertel zieht, zücken viele Männer am Straßenrand die Handy-Kameras. "Ist zwar Ramadan und wir sollten nicht hingucken, aber so was sieht man ja nicht ständig", sagt ein Mittzwanziger und lacht. "Scheint ja um Kleidung zu gehen, irgendwie, lustig."
Eine junge Mutter, die aus Istanbul nach Berlin migriert ist – sie trägt enge Kleidung und starkes Make-Up – würde "glatt mitmachen, Selbstbestimmung ist doch eine gute Sache". Sie merkt an, dass Frauen doch gerne mit Reizen spielen würden, das aber dann "natürlich keine Aufforderung an die Männer sein darf, anzufassen".
Sie würde sich freuen, wenn es demnächst auch in Istanbul oder Izmir Slutwalks geben würde, die gegen das meist familiär geforderte Kopftuch gehen würde. "Muss ja nicht gleich nackt sein, aber es sollte die Frauen stärken und ihnen Kraft geben, sich gegen die Familie durchzusetzen." Familiäre Gewalt, so bedauert sie, sei aber meist ein Hinderungsgrund für die Frauen in den ländlichen Gegenden der Türkei, "da muss noch ein langer Weg gegangen werden".
Wie Diana Drechsel, 29, eine der Mitorganisatorinnen, später bemerkt, sei die Botschaft nicht unbedingt gut transportiert worden, es habe viele belustigte Gaffer gegeben, beim nächsten Mal werde es wohl noch einige große Transparente mit knapp und deutlich formulierten Botschaften mehr geben müssen. Mit dem ersten Berliner Slutwalk sei sie aber sehr zufrieden. Diana sagt, dass es bei dieser Art des Feminismus nicht nur um Kleidung geht, sondern vor allem darum, dass Macht auf Frauen ausgeübt werde, die zu brechen sei. "Komplimente sind doch viel besser als hinterherpfeifen", sagt die Gender-Studies-Studentin, und dass an der Zeit sei, Gender-Unterricht in den Schulen einzuführen.
Konsens zwischen den Geschlechtern
Nicht nur geht es ihr um anschaulichen Sexualkundeunterricht, sie kann sich auch "Power-Workshops" für Jungs und Mädchen vorstellen, in denen das Thema "Konsens" eine wichtige Rolle spielt. Frauen dürften einfach keine Angst mehr haben, wenn sie nachts auf der Straße Schritte hinter sich hören.
Ein Beispiel staatlicher Ignoranz erlebte sie unlängst selbst, nachts im Ausgehdistrikt Berlin-Mitte. Als sie und zwei Freundinnen nach mehrfacher Belästigung durch einen Mann zum Polizeirevier gingen und um Hilfe vor dem Verfolger baten, fragte eine Polizistin, ob sich die Frauen nicht "ein anderes Hobby als nachts spazieren gehen" suchen könnten.
Der Slutwalk soll ihrer Meinung nach einen Raum schaffen, damit Menschen ihren Protest äußern können, dabei sei ganz klar, dass ein Slutwalk in Indien oder der Türkei nicht aussehen muss wie in den westlichen Ländern. Candy, 35, ebenfalls Mitorganisatorin, sieht nun endlich die "dritte Generation" der Frauenbewegung aufziehen, da die Riot-Girl-Bewegung der neunziger Jahre in Deutschland aufgrund des Aufbruchgefühls der beiden vereinten deutschen Staaten und der Rave-Generation leider nicht stattgefunden habeund im "Girlietum" versandet sei.
Ob sie sich vorstellen könne, dass junge Frauen aus dem islamischen Kulturkreis, die sich ja noch viel direkter mit Kleiderordnungen auseinandersetzen müssen, auch für Selbstbestimmung auf die Straße gehen? "Ein schwieriges Thema", findet sie, ebenso wie Diana, denn natürlich seien verschiedene Kulturen und Religionen zu akzeptieren. Candy würde sich aber darüber freuen, wenn auch Migrantinnen durch den Slutwalk Lust bekämen, die eigene Kultur und die Definition der Frau durch die Religion "beginnen würden zu hinterfragen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen