Orson Welles in „Der dritte Mann“: Wie man an Kriegen verdienen kann
Orson Welles spielt im Klassiker „Der dritte Mann“ einen Kriegsprofiteur, der mit Medikamenten handelt. Auch heute gibt es dieses Phänomen noch.
D er Schriftsteller Graham Greene tauchte regelmäßig in Ländern auf, die kurz vor der Revolution standen. Das war kein Zufall. Als freier Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes konnte er sich vor Ort nützlich machen und gleichzeitig für seine Bücher recherchieren. Gefährliche Situationen stimulierten ihn.
Schon als Schüler hatte er mit einer gestohlenen Pistole russisches Roulette gespielt, um seinen Depressionen zu entkommen. Die Depressionen blieben, aber zu seiner Überraschung überlebte er alle anderen Katastrophen – die Bomben auf seine Londoner Wohnung, den Prager Umsturz 48, die kubanische Revolution und Vietnam.
Seine Erfahrungen verarbeitete er zu Romanen und Drehbüchern, in denen Ideologien aller politischen Couleur schlecht wegkommen. Eines seiner berühmtesten Filmskripte ist „Der dritte Mann“. Es wurde 1948 in einem von den Besatzungsmächten geteilten, kaputten Wien gedreht.
Zum 75-jährigen Jubiläum kommt der Film jetzt in einer restaurierten Fassung noch einmal in die britischen Kinos. Das hat seinen Grund. Vieles daran wirkt heute wieder überraschend aktuell: Trümmerkulissen, Schieberbanden und Zivilisten, die zwischen die Fronten geraten.
Kriegsprofiteure und geschlechtskranke Soldaten
Der amerikanische Schauspieler Orson Welles spielt in „Der dritte Mann“ einen Archetyp: den Kriegsprofiteur Harry Lime. Ob 1948 in Wien oder heute in der Ukraine, Gaza und Sudan, Kriegsgewinnler wie Lime sind immer zur Stelle. Sie zweigen Hilfsgüter ab und verdienen fürstlich am Unglück anderer.
Der charismatische Lime hat sich auf das Verschieben von Penicillin spezialisiert. Das neue Wundermedikament wurde nach dem Krieg tatsächlich dringend gebraucht. Ein Berliner Schieber zahlte 1946 einer Gruppe von GIs 13.000 Dollar (heute ca. 200.000 Euro), damit sie ihm Penicillin aus amerikanischen Beständen klauten. Die amerikanische Armee nutzte damals das Mittel zur Behandlung ihrer geschlechtskranken Soldaten. Der Berliner Schieber flog auf und landeten mit seinen Kompagnons im Gefängnis.
Limes Erfinder Graham Greene interessierte sich für das Thema Penicillin aus mehreren Gründen. Der gläubige Katholik Greene besuchte regelmäßig Bordelle, was weder seine Ehefrau noch seine Geliebte erfahren sollten. Er musste sich daher so gut wie möglich vor Gonorrhö schützen. Seine intensiven Recherchen beruhten jedoch auch auf beruflichem Interesse: Brigitte Timmermann und Paul Newton haben 2016 in einem Aufsatz gezeigt, dass der amerikanische Nachrichtendienst die Penicillinknappheit gekonnt nutzte.
Geheime Operation „Tripperfalle“
Man behandelte nicht nur die eigenen Soldaten damit, man entwickelte nebenher auch die Geheimdienstoperation „Tripperfalle“. Da die Russen ebenfalls ein Problem mit Geschlechtskrankheiten hatten, bot man infizierten sowjetischen Soldaten Penicillin im Austausch gegen Informationen an.
So ein Angebot war extrem verlockend, denn in der sowjetischen Armee landeten Soldaten mit Geschlechtskrankheiten vorm Kriegsgericht. Geheilt nach Südamerika zu entkommen schien die bessere Alternative. Operation „Tripperfalle“ erzielte daher ausgezeichnete medizinische wie nachrichtendienstliche Ergebnisse.
Der fiktive Harry Lime hingegen vertickt nicht Echtes, sondern gepanschtes Penicillin. Die Auswirkungen sind schrecklich. Im „Dritten Mann“ werden Kinder gezeigt, die qualvoll an Meningitis sterben, nachdem sie Limes Medikament eingenommen haben. Auch diese Szenen wirken überraschend aktuell. Bis heute werden gefälschte Medikamente verschoben, während echte Medikamente in Krisenregionen unerschwinglich bleiben.
Harry Lime starb zwar vor 75 Jahren in der Wiener Kanalisation, doch sein Geschäftsmodell lebt weiter.
Karina Urbach beendet hiermit ihre Kolumne „Blast from the Past“, um etwas Neues auszuprobieren. Wer sich für das Wien der Nachkriegszeit und den Dritten Mann interessiert, sollte ihren Thriller DAS HAUS AM GORDON PLACE lesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind