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Oral HistoryBegegnung am Tatort

Zum 65. Jahrestag der Befreiung des KZ Neuengamme lud die dortige Gedenkstätte Überlebende ein - und brachte sie mit ihren Nachkommen ins Gespräch.

Fassbar ist dieses Verbrechen nicht allein intellektuell: Walter Riga, ehemaliger KZ-Insasse aus den Niederlanden. Bild: Mart-Jan Knoche

Zwei Videokameras auf Stativen sehen Milos Poljansek und seine Tochter an. Dazu die Augen von etwa 70 Zuschauern in den Sitzreihen vor der kleinen Bühne, von drei Kontinenten angereist nach Hamburg, ins ehemalige Konzentrationslager Neuengamme: Europäer, Amerikaner und Australier, mit Kopfhörern und Funkempfängern bestückt. An einem Tisch flüstern vier Dolmetscher in Mikrofone, übersetzen simultan: Englisch, Deutsch, Polnisch und Russisch.

Zwei Generationen Poljanseks aus Slowenien sollen an diesem Vormittag dabei helfen - wie es im Tagungsflyer heißt - "das Spannungsverhältnis von privatem Erinnern und öffentlicher Erinnerungskultur" in ihrer Heimat zu beleuchten. So wie weitere 85 Überlebende und gut 300 Angehörige sind sie zum 65. Jahrestag der Auflösung des KZ Neuengamme gekommen. Eine einmalige Gelegenheit für das zur Gedenkstätte gehörende Studienzentrum - vielleicht die letzte dieser Art, bedenkt man das Alter vieler Angereister: Jeden Tag haben die Historiker mit Gedenkveranstaltungen, Exkursionen und Zeitzeugen-Interviews beschickt.

Erst spät ein Thema

"Spät wurde der Holocaust in Slowenien ein Thema", sagt Tadeja Poljansek, geboren 1962. Sie blickt zu ihrem Vater Milos, Jahrgang 1923, ehemaliger Häftling im KZ Neuengamme. "Erst vor 15 Jahren, als wir die Gedenkstätte besuchten, als er ein Buch darüber schrieb, begriff ich sein Schicksal", fährt die Tochter fort. Jahrelang habe er Angst gehabt, sagt ihr Vater, in seiner Heimat über die Zeit im KZ zu sprechen. Die Partisanen-Siege, ja, die seien heroisiert wurden. KZ-Häftlinge aber, die "galten bei uns als Kollaborateure", erklärt er dem Publikum - und den Videokameras, die drei Tage lang "Überlebende und ihre Kinder im Gespräch" filmen.

Ehemalige Häftlinge aus elf Ländern fanden sich bereit, öffentlich mit einem Kind oder Enkelkind zu sprechen: über ihre Erfahrungen im Nationalsozialismus, aber auch über die Möglichkeiten und Grenzen der Aufarbeitung in ihrer jeweiligen Heimat. Noch bis in die kommende Woche werden sie sich interviewen lassen. Es sei das "größte Projekt, das ich in meiner Karriere realisiert habe", sagt Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums. "Wir wollen ermitteln, wie die NS-Erfahrungen in die Nachfolgegenerationen weitergegeben wurden - und wie das künftig geschehen sollte."

Was sie mit dem gesammelten Material machen, wenn es erstmal ausgewertet ist, wissen die Historiker noch nicht genau. Ob es etwa Ergebnisse zu Tage fördert, die international zu neuen Ansätzen in der Erinnerungsarbeit führen, ist offen. Ebenso, ob es gelingt, die Gespräche auf vier Sprachen in schriftlicher Form zu veröffentlichen. "Es wird erstmal archiviert und für die museumspädagogische Arbeit in unseren Seminaren Verwendung finden", sagt von Wrochem. Klar scheint aber: Ob in Deutschland oder Slowenien, in Skandinavien, Süd- oder Osteuropa: In jedem Land beherrschen bis heute nationale Mythen das offizielle Gedenken an den Holocaust. Und erschweren auch den ehemaligen Häftlingen und ihren Familien die Aufarbeitung ihres Leids - auch viele Jahrzehnte nach der Befreiung.

Leeres Lager vorgefunden

Am 2. Mai 1945 verließen die letzten SS-Männer das größte KZ im deutschen Nordwesten - mit den noch verbliebenen Häftlingen. Die vorrückenden britischen Truppen fanden ein leeres Lager vor. Am nächsten Tag bombardierten alliierte Flugzeuge in der Lübecker Bucht die Schiffe "Cap Arcona" und "Thielbek", rund 7.000 Häftlinge aus Neuengamme starben. An diesem Samstag vor 65 Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte das Deutsche Reich. Zwei Tage später wurde der letzte Häftling des KZ Neuengamme aus dem Außenlager Flensburg befreit. Die nun zu Ende gehende Woche ist eine des Gedenkens - "anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung aus den Konzentrationslagern, der Bombardierung der Häftlingsschiffe und der Beendigung des Zweiten Weltkriegs".

Über das sonst so einsame Gelände im Hamburger Südosten schallen in dieser Woche Gekreisch und lautes Rufen. Etwa 600 Schulkinder aus der ganzen Stadt sind an mehreren Tagen gekommen, um mit den Zeitzeugen zu sprechen. Junge Leute saßen im Schneidersitz auf dem einstigen Appellplatz, während die Überlebenden umherliefen auf der Suche nach ihren Shuttle-Bussen. Auf englisch, polnisch und französisch fielen Sätze, wo sonst Stille herrscht. Detailliert erzählten die dabei Gewesenen, wie es war als KZ-Häftling, als sie so jung waren wie ihre Zuhörer heute. Mit ihren Schilderungen vermittelten sie: Fassbar ist dieses Verbrechen nicht allein intellektuell, sondern wohl erst in Verbindung mit einer emotionalen Ebene.

Neben der Oral History, der mündlich überlieferten Geschichte, galt ein weiteres Augenmerk der Kranzniederlegung am Mahnmal. Die nationalen Delegationen der Häftlingsvereinigung "Amicale Internationale de Neuengamme" brachten ihre Kränze zu der in den Himmel aufragenden Stele. Erst danach, strikt nach Tradition und protokollarischer Reihenfolge, legte Bürgermeister Ole von Beust im Namen des Hamburger Senat seinen Kranz nieder, gefolgt von politischen Parteien, der jüdischen Gemeinde, dem islamischen Sura-Rat, der autonomen Antifa und weiteren Verbänden.

Von den neonazistischen Sprüchen, Hakenkreuz- und SS-Runen-Graffiti, mit denen der Ort noch Ostermontag verunstaltet worden war, war nichts mehr zu sehen. Aber gehört hatten sie auch davon, viele der Gäste in dieser Woche.

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