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■ Ohne Toleranz gibt es keine freie Bürgergesellschaft. Konservative wollen den Begriff im „Zero Tolerance“-Konzept negativ umdeutenDer Kampf um die Worte

„Null-Toleranz“ ist eigentlich ein Begriff der Mechanik. Er bezeichnet einen Zustand extremer Paßgenauigkeit, bei der Teile eines Geräts keinerlei Spiel gegeneinander haben. Entgegen landläufiger Meinung entstammt Null-Toleranz als Metapher der Verbrechensbekämpfung nicht der Selbstbeschreibung der Tätigkeit New Yorker Polizeistrategen. Sie ist ein Kind der Ära Reagan/Bush und erblickte das Licht der Ordnungshüterwelt, als es in den 80er Jahren der Drogenkriminalität endgültig an den Kragen gehen sollte. Werden die Teile richtig justiert, läuft die gesellschaftliche Maschine ohne Störung.

„Null-Toleranz“ gewann aber seine heutige Bedeutung tatsächlich im Zusammenhang mit der Präventionsstrategie New Yorker Herkunft. Deren Kern läßt sich auf folgenden Gemeinplatz reduzieren: Dort, wo allgemeine Unordnung herrscht, vermehrt sich Kriminalität leichter als dort, wo alles in schönster Ordnung ist. Wo allgemein die Regeln beachtet werden, haben die Regelbrecher es schwerer und vice versa. Siehe das Verkehrsverhalten von Fahrradfahrern in Bezirken, in denen die Alternativen das Sagen haben. Die Konsequenz aus dieser als „Broken-Windows-Theorie“ hochstilisierten Beobachtung ist eben: Null-Toleranz.

Wehret den Anfängen. Wer an die Hauswand pißt, Zigarettenstummel wegschmeißt, sich öffentlich besäuft und anschließend herumgrölt, muß mit Arretierung und einer anschließenden saftigen Strafe rechnen.

Der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm ist von alldem begeistert, besonders hat es ihm der Begriff Null-Toleranz angetan – und nicht nur ihm. In der deutschen Rezeption dieses Schlagworts steht nicht sein mechanistischer Sinn im Vordergrund, sondern die Verneinung dessen, was einmal in der erst theologischen, dann philosophischen Tradition als entscheidender Dreh der Toleranz angesehen wurde: Duldsamkeit.

Konservative Kritiker neigen leicht dazu, weltanschauliche Auseinandersetzungen auf einen Kampf um die Besetzung von Begriffen zu reduzieren, also auf einen Machtkampf. Nach dieser Sicht der Dinge hätten die Linken in den kulturrevolutionären 60er Jahren eine Reihe von Kernbegriffen wie den der Emanzipation durchgesetzt, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich selbst verstand. Diese Tendenz gelte es jetzt umzudrehen. So verkürzt solche vor allem in der FAZ kultivierten Betrachtungen auch sein mögen – fest steht, daß es in der Ära Kohl ein manifestes Rollback an der „Begriffsfront“ gibt.

Victor Klemperer, scharfsichtiger philologischer Beobachter der Nazi-Sprache, ist in seinem „LTI“ (lingua tertii imperii = Sprache des Dritten Reiches) der Beobachtung nachgegangen, wie und auf welche Weise vormals als negativ empfundene Begriffe in positive umgedeutet wurden. Sein wichtigstes Beispiel war das Wort „fanatisch“, das auch in der Alltagssprache zu einem Schlüsselbegriff für nationalsozialistische Überzeugungstreue und Entschlossenheit mutierte.

Parallelen zu „LTI“ drängen sich auf, wenn man die Umdeutung von Begriffen wie „aggressiv“ oder „frech“ ins Positive verfolgt. Binnen weniger Jahre sickerte dieser Bedeutungswandel vom Jargon der Werbebranche in die Umgangssprache durch. Worte wie diese fügen sich trefflich ins Pandämonium der Ellbogengesellschaft ein. Sie drücken die Gegenbegriffe zivilgesellschaftlichen Verhaltens an die Wand: friedliche Rücksichtnahme, Höflichkeit, Suche nach Konsens – und jetzt auch Toleranz. Das Toleranzgebot steht wie die anderen eben genannten republikanischen Tugenden nicht im Grundgesetz. Aber eine demokratische Grundordnung, sprich eine freie Bürgergesellschaft, ist ohne Toleranz undenkbar.

Innerhalb gesellschaftlicher Zustände wie der deutschen, die so stark von Ausgrenzungsbedürfnissen der Mehrheit, so sehr vom Zwang zur Anpassung seitens der Minderheiten geprägt sind, wirkt die Null-Toleranz-Metapher wie ein Katalysator. Was zum Teufel soll dieser Vorwurf, könnte Senator Schönbohm antworten: Ich trete doch nur für Unduldsamkeit gegenüber dem Verbrechen ein. Und außerdem: Haben nicht die großen liberalen Theoretiker, hat nicht beispielsweise John Locke, einer der Väter des Toleranzgedankens, statuiert: Keine Toleranz gegenüber den Papisten!?

Stimmt – und stimmt doch nicht. Geschichtlich ist mit dem Begriff der Toleranz eben Duldsamkeit gerade gegenüber jenen Erscheinungen verbunden, die uns irritieren, abstoßen, uns fremd sind, unserem Wertekanon widersprechen. Etwas tolerieren heißt etwas ertragen können. Lessings Ringparabel am Ende des „Nathan“ erzeugt leicht eine Art matter Ratlosigkeit. Die Protagonisten sind sich dermaßen einig, daß man sich fragt, worin eigentlich ihre Toleranz gegeneinander bestehen soll.

Toleranz ist auch mehr als wohlwollendes Desinteresse. Einer unserer Altvordern, der in der taz nicht allzu häufig zitiert wird, hat hierzu, in seinen „Maximen und Reflexionen“, folgendes Bedenkenswerte beigesteuert: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen!“ Damit wollte uns der Dichter keineswegs sagen, wir sollten die Toleranz geringschätzen. Er machte vielmehr darauf aufmerksam, daß wir uns konträre Ansichten und Lebensauffassungen als Bereicherung betrachten sollten, wenigstens aber als Herausforderung. Ob er allerdings, der er in Weimar zwischenzeitlich für „Polizey“ verantwortlich war, seine Anerkennung auch auf die Lebenswelt der Bettler und Stadtstreicher erstreckt hätte – who knows?

Es geht um Anerkennung, diesen Schlüsselbegriff im zwischenmenschlichen Umgang, vor allem aber im Umgang mit Minderheiten. Wir alle konkurrieren um Aufmerksamkeit des lieben Nächsten, ein Umstand, der sogar in einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ seinen Niederschlag gefunden hat. Null-Toleranz gegenüber den Anfängen des Verbrechens, sprich: der Kleinkriminalität, meint eigentlich kein Verständnis für die Andersartigkeit von Lebensstilen, die sich nicht der Norm der Erwerbsgesellschaft fügen können oder wollen. Null-Toleranz gegenüber Pennern, Bettlern, Fixern, Graffitischmierern, Herumlungerern und Eckenpissern. Bekanntlich löst diese Strategie kein Problem, auch nicht das der Verbrechensbekämpfung. Aber sie festigt das Selbstbild vom sauberen Deutschen. Und auf den Waschzwang als gemeinschaftsfördernde Leidenschaft kommt es schließlich an. Null-Toleranz! Christian Semler

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