piwik no script img

Offener Tisch Die gehobene Küche in Deutschland macht Angst: Blumengestecke, Klassikpop und eine Sinfonie aus Edelfischen. Dann lieber Lärm und RestekücheFallende Sterne

Gebratene Jakobsmuscheln Foto: Fstop/F1online

Von Philipp Mausshardt

Ein Sonntag im Herbst, ich hatte vergessen einzukaufen und, um ehrlich zu sein, auch keine Lust zum Kochen. „Lass uns essen gehen“, schlug ein Freund vor, aber nach Durchschnittsküche oder Pizza stand uns nicht der Sinn. Das ist ja die Crux, wenn man ein wenig vom Essen versteht, dass es einem in den meisten Lokalen nicht mehr schmeckt.

Glücklicherweise wohne ich in einer Gegend, in der im Umkreis von 50 Kilometern ein gutes Dutzend Sterne-Restaurants liegt. Der „Stern“, die Auszeichnung des Reifenherstellers Michelin für „sehr gute Küche“, gilt trotz Tripadvisor oder konkurrierender Führer noch immer als der renommierteste Rat­geber in Sachen Qualität. Leider ist auch der Preis entsprechend. Unter 50 Euro – ohne Getränke – wird man nicht nach Hause gehen. Das ist die Untergrenze für ein mehrgängiges Menu. Es kann aber auch schon mal um die 100 Euro kosten.

Wir scannten die Speisekarten der in Frage kommenden Lokale im Netz. Das „Waldhorn“ in Bebenhausen bot „Dreierlei vom Kalb mit cremiger Polenta und getrüffelten Schwarzwurzeln“ (29 Euro), in der „Krone“ in Waldenbuch hatten sie „Geschmorte Kalbshaxe mit Schwarzwurzeln und Trüffelpolenta“ (28 Euro) auf der Karte, und das „Landhaus Feckl“ empfahl sich mit einer „Sinfonie von Edelfischen mit Hummersauce, Romanescu und gemischtem Reis“ (36 Euro). Alles Klassiker der gehobenen Küche, auf die wir umso weniger Lust verspürten, je länger wir auch die Speisekarten der anderen Sterne-Restaurants studierten.

Die Fotos der Gaststuben machten uns Angst: Auf einem Bild hing ein Hirschgeweih an der Wand, andere hatten weiße Hussen über ihre Stühle gestülpt, wieder woanders standen üppige Blumenarrangements in jeder Ecke des Zimmers. Man hörte förmlich Richard Clayderman aus den Lautsprechern tönen, populäre Klassik, der ultimative Abtörner jedes guten Essens.

Ich erinnerte mich daran, in letzter Zeit immer wieder Meldungen von „Sterne“-Restaurants gelesen zu haben, die ihren Betrieb einstellen. Ende September schloss das Restaurant „Stolz“ in Plön, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Schon im August hatte das „Clauss-Feist“, ein Restaurant in Traben-Trarbach an der Mosel, dichtgemacht, und in Gonsenheim bei Mainz wird im Restaurant „Buchholz“ zum Jahresende der Schlüssel umgedreht. Alle drei Lokale besaßen einen Michelin-Stern, also eine der wichtigsten Auszeichnungen für gehobene Küche. Davon gibt es in Deutschland nur etwa 230.

Wir beschlossen, zu Hause zu bleiben und aus den wenigen Zutaten, die noch in Kühlschrank und Speisekammer lagen, ein Menü zu kochen.

Eine Freundin kam dazu. Sie war gerade in London gewesen und hatte in einem Lokal des israelischen Starkochs Yotam Ottolenghi „wildes Zeugs“ gegessen, irgendetwas aus Haferflocken und Sirup mit gegrilltem Gemüse. Mir fiel ein Edel-Restaurant in Tokio ein, das in einem U-Bahn-Schacht nur zehn Gäste bewirtet.

Offenbar tut sich was in der gehobenen Gastro-Szene, aber es ist in Deutschland noch nicht richtig angekommen. Die Leute können mit überladenem Tischdekor und steifen Sommeliers immer weniger anfangen. Sie wollen Spaß haben und trotzdem gut essen. In New York, Tokio oder London kann man das schon. In Deutschland dagegen wird die „Trilogie von der Entenleber“ häufig noch mit einem Gesicht serviert, wie es der Urologe bei der Diagnose Hodenkrebs aufsetzt.

Rosenkohl à la Ottolenghi

Die Zutaten: 500 Gramm Rosenkohl, 250 Gramm Schalotten, 3 Blutorangen, 100 Gramm Haferflocken, 150 Gramm Zucker, 3 Esslöffel Zitronensaft, Olivenöl, Butter, Salz, Pfeffer, Chilipulver, Zimt, Sternanis

Die Zubereitung: 100 Gramm Zucker in kochendem Wasser auflösen, Zimtstange und fünf Sternanis zugeben und nach kurzem Aufkochen abkühlen lassen. Zitronensaft zufügen und die filetierten Blutorangen mit dem Sirup eine Stunde lang marinieren. Rosenkohl von welken Blättern befreien, zwei Minuten blanchieren und anschließend halbieren. Dann mit den grob gehackten Schalotten und etwas Olivenöl vermischen und mit Salz, Pfeffer und Chilipulver würzen. Im Backofen zwanzig Minuten lang bei 220 Grad braten. Haferflocken mit dem restlichen Zucker in reichlich Butter kross anbraten. Marinade der Orangen abgießen und aufbewahren. Rosenkohl mit den kleingeschnittenen Orangenstücken und dem Haferflockencrunch mischen und mit etwas Marinade übergießen. Dazu passt Kartoffelgratin.

In den privaten Küchen ist der Trend schon angekommen: Immer seltener lädt das eine Ehepaar das andere Ehepaar zu sich nach Hause ein und kocht sich zwei Tage lang die Finger wund. Was natürlich auch daran liegt, dass die klassische Ehe als Rezept nicht mehr so richtig taugt. Viel lustiger ist da doch eine Einladung zur Openspace-Küche, wo dem Gast gleich ein scharfes Messer in die Hand gedrückt wird.

Die kleine Runde bei mir zu Hause öffnete erst mal einen Mosel-Riesling, Spätlese, mit viel Restsüße und machte sich an die Regale auf die Suche nach Essbarem. „Hier sind Haferflocken!“, freute sich die aus England Zurückgekehrte. „Passt doch zu Rosenkohl“, rief ich mehr aus Not, denn im Gemüsefach lag nichts anderes.

Rezepte von Yotam Ottolenghi, dem gefeierten Koch der Hipster-Szene, sind nichts anderes als Resteverwertung. Kühlschrank auf und zusammenwerfen, was eigentlich nicht zusammenpasst. Anschließend alles mit Sirup übergießen und als neue Aromenwelt feiern.

Wohin die neue Lockerheit führen wird, ist noch nicht erkennbar. Zumindest einen Vorteil hat sie: Niemand braucht mehr Angst zu haben, andere zum Essen einzuladen. Auch wenn es grausam schmeckt, es ist ja alles nur ein Experiment.

Die Essecke: Philipp Maußhardt schreibt hier jeden Monat über seinen offenen Sonntagstisch. Außerdem im Wechsel: Sarah Wiener komponiert aus einer Zutat drei Gerichte, Jörn Kabisch spricht mit Praktikern der Küche, und Autoren der taz kochen gemeinsam mit Flüchtlingen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen