Offener Brief aus der Ukraine: Kampf um ein gemeinsames Europa
Ein offener Brief aus der Ukraine wendet sich an junge Vertreter:innen der deutschen Zivilgesellschaft. Es ist ein Appell für mehr Unterstützung.
Wir kommen aus verschiedenen Bereichen der ukrainischen Gesellschaft, unser Spektrum reicht vom Unternehmenssektor bis zu Wissenschaft und Kunst. Das Leben eines jeden von uns hat sich am 24. Februar geändert, als Russland in einem großen Krieg die Ukraine überfiel.
Der Krieg in der Ukraine hat hitzige Debatten in der deutschen Gesellschaft ausgelöst. Soll man der Ukraine Waffen liefern? Oder es nicht tun? Wenn nicht, inwiefern soll man sich sonst einmischen? Und die Beziehungen zu Russland – soll man sie aufrechterhalten?
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland und Intellektuelle (hauptsächlich Angehörige der älteren Generation) rufen die Ukraine dazu auf, “Realisten“ zu sein. Manchmal, mitunter sehr unverblümt, drücken sie gar die Erwartung aus, die Ukraine sollte doch kapitulieren. Im Prinzip sind sie bereit, uns zu opfern. Aber warum? Sie scheinen die große Vision Europas, das sie einst aufbauten, vergessen zu haben.
Daher appellieren wir an euch, an die neue Generation deutscher Führungspersönlichkeiten. In euren Firmen und Startup-Unternehmen, in eurem Aktivismus und eurer Interessenvertretung, in der Politik und im Cyberspace baut ihr ein modernes Deutschland und Europa auf. Jeden Tag ändert ihr die Welt um euch herum. Ihr könnt euch noch nicht mit verbrecherischen Kompromissen abfinden. Ihr begreift die Macht der Ideen.
Brief der Emma Über den Krieg in der Ukraine wird in Deutschland debattiert, seit Russland das Nachbarland am 24. Februar angegriffen hat. Für Aufmerksamkeit sorgte der Ende April von der Zeitschift Emma veröffentlichte Offene Brief an Olaf Scholz, in dem 26 Prominente aus dem Kultur- und Medienbetrieb, darunter die Filmemacher:innen Andreas Dresen und Helke Sander sowie der Sozialpsychologe Harald Welzer, vor Waffenlieferungen an die Ukraine warnten, weil dies „der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein“ könne.
Antwortbrief in der Zeit Anfang Mai reagierten 57 Prominente aus Kultur, Medien, Wissenschaft und Politik rund um die ehemaligen Grünen-Politiker:innen Ralf Fücks und Marie-Luise Beck per Antwortbrief auf zeit.de. Sie sprachen sich explizit für die Lieferung schwerer Waffen aus.
Brief aus der Ukraine Darauf antworten nun 11 jüngere Ukrainer:innen aus Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft. Mit ihrem offenen Brief wenden sie sich speziell an jüngere Menschen in Deutschland, weil sie glauben, dass die hiesige Debatte zu sehr von den Politiker:innen und Intellektuellen der älteren Generation bestimmt werde. Weil es gerade in dieser Debatte wichtig ist, Stimmen aus der Ukraine zu hören, hat sich die taz entschlossen, den Brief zu veröffentlichen.
Heute steht euer Land am Scheideweg. Der Kampf um die Vielfalt, neue Technologien, eine Verringerung des CO2-Ausstoßes und eine gemeinsame Zukunft geht einher mit der größten finanziellen Unterstützung eines Landes, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Herzen Europas verübt. Eine alte Politik hat dazu geführt, dass Deutschland wieder einmal „auf der falschen Seite“ in die Geschichte eingehen wird, nicht als eines der führenden Länder im Rahmen des europäischen Projektes im 21. Jahrhundert, sondern als einer der Sponsoren des terroristischen Regimes der Russischen Föderation.
Doch wir wollen hier jetzt nicht moralisieren. Wir möchten Antwort auf die einzige Frage geben, die heute von Bedeutung ist. Diese Antwort wird euch helfen, unseren Standpunkt zu verstehen. Und, so hoffen wir, werdet auch ihr Position beziehen. Die Frage lautet: Wofür kämpfen wir Ukrainer und wir Europäer in diesem Krieg?
Für ein offenes Europa
Europa ist ein Synonym für Offenheit und eine Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit und Vielfalt der Standpunkte von Bedeutung sind, das Individuum nicht unterdrückt wird, wo man sich artikulieren kann, das ist es, wonach die Ukraine strebt. Das ist es, was Russland uns nicht verzeihen kann. Russlands Expansion ist die Expansion einer geschlossenen Welt. Russland träumt von einer in mehrere konkurrierende Einflussbereiche aufgeteilten Menschheit, in der einer dieser Bereiche der Tyrannei geopfert wird.
Das Europäische Projekt war immer eine Alternative zu diesem internationalen und politischen Darwinismus. Trotz der Aufrufe zur Unterwerfung haben die Ukrainer sich für die Alternative dazu entschieden. Wir kämpfen für ein offenes Europa, das ein Ort ist, wo nicht jeder gegen jeden Krieg führt, sondern wo es vielmehr individuellen und kollektiven Wohlstand für alle Menschen guten Willens gibt.
Für ein Europa in Sicherheit
Europa hat viele furchtbare Lektionen aus den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts gezogen. Die Lektionen wurden danach in modernen Begriffen der Menschenrechte und Unantastbarkeit der Person in eine Form gebracht. Das System der internationalen Sicherheitsinstitutionen ruht auf diesen Begriffen. Die Besetzung der Krim durch Russland und der Beginn der russischen Aggression im Donbas zeigten erstmals, wie ineffektiv diese Form ist. Über beides haben die westlichen politischen Eliten hinweggesehen.
Viel zu verführerisch ist doch die Maxime business as usual. Das langjährige Verschweigen der Wirklichkeit hat dazu geführt, dass Russland Gemetzel an Zivilisten veranstaltet und andere Länder mit Atomwaffen bedroht. Heute wird Europa nicht durch formale Einrichtungen beschützt, sondern von ukrainischen Soldaten aus Fleisch und Blut. Die Ukraine ist zum Schutzschild Europas geworden. Nicht weil es ihr Schicksal ist, sondern weil sie sich dazu entschieden hat. Wir glauben an ein Europa in Sicherheit. Wenn Europa bedroht wird, verteidigen wir es.
Für ein Europa der Vielfalt
Die Anerkennung kultureller, religiöser, nationaler und geschlechtlicher Andersartigkeit war einer der wichtigsten Marksteine des europäischen Projektes. Dank seiner schweren Erfahrungen hat Europa gelernt, diese Unterscheidungen zu erkennen, zu kommunizieren und zu institutionalisieren.
Die russische Aggression bringt all diese Errungenschaften in Gefahr. Sie ruht auf einer Ideologie, die bestimmte Länder bevollmächtigt, selbst zu entscheiden, welches Land das Recht auf Existenz hat. Laut dieser Ideologie haben bestimmte Menschen das Recht, anderen zu diktieren, was sie sagen und wie sie sich artikulieren dürfen.
Es wird von der russischen Propaganda offen dazu aufgerufen, von allem Andersartigen „zu säubern“. Heute sind damit das ukrainische Volk und die ukrainische Kultur gemeint. Doch schon werden derartige Drohungen auch Richtung Westen und Europa laut. Der Kampf der Ukraine ist kein Konflikt an der Peripherie, der aus politischen oder historischen Streitigkeiten entstanden ist. Es wird gekämpft für das Recht eines jeden, anders zu sein und in Würde zu leben.
Für ein digitales Europa
Digitale Technologien sind die treibende Kraft der europäischen Vereinigung. Während die traditionellen Institutionen kolossale Ressourcen erforderten, sind die digitalen Netzwerke zu einem Eisbrecher geworden, der soziale, politische und ideologische Hindernisse überwindet. Der hohe Stand der Computertechnik ist Europas Lingua franca. Dank dieser Technik ließ sich die grausame Natur der russischen Aggression nicht verheimlichen, ungeachtet der zahlreichen Versuche des Putin-Regimes, Falschinformationen zu verbreiten.
In diesem Krieg sind die Ukrainer mit den Europäern zu digitalen Diplomaten, Kriegern und Politikern geworden. Wir wehren gemeinsam russische Cyberangriffe ab, wir gründen neue Unternehmen, die ihren Beitrag zu mehr Solidarität leisten, wir machen gemeinsam Fundraising für Flüchtlinge und Soldaten. Wir kämpfen für einen gemeinsamen digitalen Raum.
Dieser digitale Raum ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der Russland und einige andere Länder versuchen, das Internet zu fragmentieren, indem man es in zensierte Enklaven aufteilt.
Für ein umweltfreundliches Europa
Genau jetzt, da die Menschheit vor einer der enormsten Herausforderungen steht, hat sich Russland auf einen aggressiven Krieg eingelassen. Der Krieg hat sich negativ auf die Bekämpfung des Klimawandels ausgewirkt. Doch die Umweltkrise ist nach wie vor sehr drängend. Mehr noch, wegen der von Russland geführten Kampfhandlungen besteht die Gefahr der Vernichtung zahlreicher Umwelt- und Ökosysteme. Europa wird mehrere Jahrzehnte brauchen, um diese Wunden zu heilen.
Wir haben nicht das Recht, auch nur eine Atempause zu nehmen in unserem Kampf für den Planeten, für Spaceship Earth. Ungeachtet dessen, dass Russland sich so verhält, als existierte die „russische Welt“ nicht auf diesem Planeten und als würde Russland die CO2-Bilanz nichts angehen. Die Ukrainer wollten nie eine Extrawelt für sich. Wir stehen immer für den Erhalt dieser einen Welt ein, so wie sie ist, die Welt, in der wir zusammenleben.
Für ein gerechtes Europa
Der von Russland geführte ungerechte Krieg bringt uns zurück zu der Frage, die der europäischen Kultur zugrunde liegt, und zwar die der Gerechtigkeit. Ist Gerechtigkeit möglich? Es war mal eine Zeit, in der Europa geantwortet, ja versprochen hat: Ja, Gerechtigkeit ist möglich.
Und in diesen Stunden kämpft die Ukraine für die Umsetzung dieses Versprechens, dafür, dass man gegen Regeln nicht verstoßen darf, indem man auf das „Recht des Stärkeren“ setzt. Dass man Geschichte nicht vertuschen und mit historischen Wunden nicht manipulieren darf, dass man keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen und dass man nicht business as usual betreiben darf, in dem man die Vorteile nutzt, die in Europa geschaffen wurden. Wir kämpfen für ein Europa von gleichberechtigten, freien und solidarischen Europäern, für ein gerechtes Europa.
Gerechtigkeit verlangt Mut. Ihr wisst aus eigener Erfahrung, was Mut bedeutet – was es heißt, das zu tun, was niemand sonst getan hätte, was es heißt, zu führen, Mauern zu durchbrechen, was es heißt, diejenigen zu überzeugen, die zu überzeugen unmöglich schien.
Das, worum wir kämpfen, ist die Zukunft eines freien Europas. Seid euch selbst treu, entscheidet euch für die richtige Seite und handelt – jetzt.
Unterzeichner:innen: Maria Berlinska, Freiwillige und Frauenrechtlerin; Tymofii Brik, Soziologe, Rektor; Anna Bulakh, Sicherheits- und Technologieexpertin; Iwan Werbyzkyj, Leiter eines analytischen Zentrums; Liubov Halan, Gründerin einer Freiwilligeninitiative, Mykola Davydiuk, Politologe; Volodymyr Kadygrob, Unternehmer; Alewtina Kakhidze, Malerin; Anton Tarasyuk, Philosoph; Mykhajlo Tkach, Journalist; Natalja Shapoval, Ökonomin
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