Özdemirs Wikileaks-Schelte: Mecker vom Meister
Grünen-Chef Cem Özdemir sagte im Fernsehen, Wikileaks habe der Demokratie geschadet. Wie bitte? Wenn hier etwas demokratiefeindlich ist, dann diese Reaktion.
Wenn Politiker am Wochenende vom "heute-journal" rausgeklingelt werden, muss es wichtig sein. Da stehen sie dann ohne Schlips und Kragen auf der Straße herum oder sitzen in ihren Wohnungen vor prall gefüllten Bücherregalen und äußern sich zu drängenden politischen Fragen, die nicht noch bis Montag Zeit gehabt hätten.
Die Inhalte dieser Statements stehen zwar in keinem Verhältnis zur suggerierten Wichtigkeit und Unaufschiebbarkeit ihrer Inszenierung, aber weil beide Seiten davon profitieren - die Journalisten kriegen aktuelle, womöglich gar exklusive O-Töne und die Politiker Aufmerksamkeit für ihre Positionen - stellt niemand diese Praxis in Frage.
Am Sonntagabend war Grünen-Chef Cem Özdemir dran. Aus Sicht der Opposition sollte er die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen kommentieren, wonach führende US-Diplomaten Kanzlerin Angela Merkel als "selten kreativ" einstufen und Außenminister Guido Westerwelle "wenig Substanz" attestieren.
"Ein größeres Desaster hat es in der Geschichte der Diplomatie noch nicht gegeben", moderierte Maybrit Illner den Beitrag an und klang dabei eher feierlich als bedrückt. Dass sie allen Ernstes von den "Freaks von Wikileaks" sprach, ohne auch nur einen der Verantwortlichen je persönlich zu Gesicht bekommen zu haben, erscheint angesichts der folgenden Entgleisung von Özdemir jedoch allenfalls als Petitesse.
Wikileaks habe mit der Veröffentlichung geheimer diplomatischer Dokumente "eine Grenze überschritten, die unserer Demokratie insgesamt nicht gut tut", sagte Özdemir, nachdem er noch mal klargestellt hatte, dass die Grünen "harte Konkurrenten von Herrn Westerwelle" sind.
Das ist so rhetorisch schlau wie inhaltlich ärgerlich, denn die Distanz ist an dieser Stelle lediglich eine behauptete. Im Klartext sagt Özdemir nämlich: Kein Politiker will so was über sich lesen müssen. Und deswegen gehört es verboten (oder zumindest nicht an die Öffentlichkeit).
Wenn etwas an der jüngsten Wikileaks-Enthüllung demokratiefeindlich ist, dann Özdemirs Reaktion darauf. So unangenehm es für den einzelnen Politiker sein mag, ins Visier von Wikileaks zu geraten, so wichtig ist die Arbeit des Enthüllungsnetzwerks für eine Gesellschaft, in der "Transparenz" häufig nicht mehr ist als ein gutgemeintes Schlagwort.
Es gehört eben auch zu den Unsitten des Nachrichtengeschäfts, dass immer die interviewt werden, die die Macht haben, was nicht automatisch auch diejenigen sind, die am meisten Ahnung haben von einem bestimmten Thema. Man darf Richtlinienkompetenz eben nicht mit inhaltlicher verwechseln, das eine geht auch ohne das andere. Und so hat der Grünen-Chef den Netzpolitikexperten seiner Partei einen Bärendienst erwiesen. Dass es auch Grüne gibt, die sich kluge Gedanken zu einer neuen Gegenöffentlichkeit durch Wikileaks machen, mag man angesichts der Aussage Özdemirs kaum glauben.
Ahnungslosigkeit in diesen Fragen hat bei den Grünen Tradition: So warnte etwa der spätere Parteichef Fritz Kuhn im Orwell-Jahr 1984 vor den Gefahren der "Überwachungs- und Arbeitsvernichtungstechnologie" ISDN. Und seine zeitweilige Kollegin als Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, redete sich in der Debatte um Google Street View jüngst um Kopf und Kragen.
Die Grünen sind die Partei der Stunde. Daran wird auch Cem Özdemirs "heute-journal"-Auftritt nichts ändern. Sympathiepunkte allerdings hat er gekostet. Noch bevor die Grünen irgendeine Wahl gewonnen haben, hat ihr Chef deutlich gemacht, worum es in der Politik geht - auch in der Partei mit den alternativen Wurzeln: um Machterhalt.
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