Özdemir über Integrationsstudie: "Mit den Eltern, notfalls auch gegen sie"

Dass sich Bildungsarmut vererbt, ist ein soziales und kein kulturelles Problem, sagt der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir.

"Jeder Tag, den wir bei der Schulreform verlieren, ist ein verlorener Tag für Deutschland." Bild: ap

taz: Herr Özdemir, eine neue Studie sieht die Integration von Migranten gefährdet. Übertreiben die Forscher?

Cem Özdemir: Die Studie beschreibt bekannte Probleme. Aber ich ärgere mich über manche Aussage rund um die Studie.

Warum das?

Weil man immer wieder denselben Gaul reitet, dass es hier um ethnische und kulturelle Fragen ginge. Das hat nichts mit dem zu tun, was die Wissenschaft über Integration weiß. Es geht vor allem um eine soziale Frage und keine kulturelle. Die Sprachstandserhebungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen etwa haben gezeigt, dass 20 Prozent der deutschen Vorschulkinder nicht gut genug sprechen, um in der Schule mithalten zu können.

Aber ist das so falsch, dass es gerade bei den Deutschtürken erhebliche Probleme gibt?

Nein, diese Erkenntnis ist nicht neu. Wir stehen vor der Herausforderung, dass sich Bildungsarmut praktisch vererbt. Vielen der Zugewanderten, besonders aus der Türkei, ist die Bedeutung guter Bildung für ihre und unsere Kinder nicht ausreichend bewusst. Das gilt allerdings auch für italienische Migranten.

Was kann man da tun, dass Alis Mutter sich mehr für Schule interessiert?

Es gibt viele Beispiele dafür, wie man in Elterncafés und Familienzentren aktiv auf die Eltern zugeht. Wenn es nicht mit den Eltern geht, dann muss man es auch gegen sie machen.

Was meinen Sie damit?

Wenn in einer Familie ein archaisches Bild der Rollenverteilung von Mann und Frau gepredigt wird, dann müssen wir in den Schulen andere Werte vermitteln - und vorleben. Dafür bräuchten wir auch mehr Erzieher mit Migrationshintergrund. Aber es geht nicht nur um die Eltern.

Sondern?

Der Staat versagt, davor können wir die Augen nicht verschließen. Es ist die Aufgabe der staatlichen Schulen, jedem Kind in dieser Gesellschaft eine Chance zu geben. Davon sind wir weit entfernt. Ich sage zwei Stichworte, gegen die wir sträflich verstoßen: Bildung muss früh beginnen und muss länger dauern. Früher meint: Wir müssen bei den unter Dreijährigen mit unserem besten Personal anfangen. Und wir müssen weiter konsequent die Ganztagsschulen ausbauen. Warum hat die Bundesregierung dieses Programm nicht verlängert?

Wieso wissen wir so viel und tun so wenig?

Weil wir in diesem alten Streit verbissen sind. Die Linke will immer nur die Schulstruktur ändern, die Konservativen machen nur die Familien haftbar. Beides ist falsch.

Sie wollen die Schulstruktur belassen, die die Kinder mit zehn Jahren sortiert?

Selbstverständlich will ich eine gute Gemeinschaftsschule, die individuell fördert und mit der das Gesamtschultrauma überwunden werden kann. Aber die Linke macht es sich zu einfach. Zu sagen, morgen haben wir eine Einheitsschule und dann ist alles gut, das ist naiv. Wenn wir wirklich eine pädagogisch wertvolle Schule für alle hinbekommen wollen, müssen wir die Eltern der gehobenen Mittelschicht genauso dafür gewinnen wie die Mutter deutschtürkischer Kinder, die vor 20 Jahren in Anatolien geboren wurde. Es ist nichts gewonnen, wenn die Mittelschicht in Privatschulen flieht.

Klingt wie eine Absage an die Schule für alle.

Nein, nur muss es diesmal klappen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Amerikaner die frühe Trennung nach der vierten Klasse in Deutschland überwinden, was misslang. In den Sechzigern hat die SPD die zweite Chance dazu verbaut, weil sie riesige, anonyme Schulklötze baute. Wir dürfen nicht noch einmal scheitern. Wer die Demokratie in Deutschland verankern will, kann nicht zulassen, dass Zehnjährige auf verschiedene Schulzweige verteilt werden.

Wenn Sie drei Sofortmaßnahmen ergreifen könnten, was würden Sie tun?

Erstens würde ich die Preisträger des Deutschen Schulpreises zu Best-Practice-Modellen erklären, von denen andere Schulen lernen sollen. Zweitens würde ich den Schulen viel mehr Autonomie und Kompetenzen geben, damit sie eigene Lösungen finden. Drittens würde ich Geld und Know-how für eine offensive Elternarbeit zur Verfügung stellen.

Wie viel Zeit bleibt noch, um die Schulen für Migrantenkinder fitzumachen?

Jeder Tag, den wir bei der Schulreform verlieren, ist ein verlorener Tag für Deutschland.

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