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Ökonom über die Wirtschaftskrise"Mehr als finanzielle Handschellen"

Nobelpreisträger und Ökonom Joseph Stiglitz übers Sparen, Eurobonds, einen größeren Rettungsschirm, Strategien gegen die Krise und Angela Merkel.

"Die Verwandten besuchen die Kranken nicht und leisten keine finanzielle Hilfe." Ein Obdachloser schläft auf einem U-Bahn-Lüftungsschacht in Athen. Bild: reuters
Hannes Koch
Interview von Hannes Koch

taz: Kanzlerin Merkel hat in ihrer Davoser Eröffnungsrede gesagt, dass sie die gemeinsame europäische Währung gern bewahren wolle. Mehr deutsches Geld mag sie dafür vorläufig aber nicht erübrigen. Kann diese Strategie funktionieren?

Joseph Stiglitz: Ihre Kanzlerin muss erkennen, dass Deutschland in jedem Fall zahlt - egal ob der Euro gerettet wird oder nicht. Welcher der beiden Wege teurer ist, kann heute niemand abschätzen. Möglicherweise ist zusätzliche Hilfe für verschuldete Staaten im Endeffekt die billigere Lösung. Als Merkel in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum das Wort "Solidarität" benutzte, freute ich mich zunächst. In Familien bedeutet "Solidarität" ja beispielsweise, dass man mit demjenigen schimpft, der vom Rauchen Lungenkrebs bekommen hat, ihm dann aber trotzdem die bestmögliche Therapie bezahlt. Im Verlauf der Rede mussten wir allerdings lernen, dass Solidarität in Merkels Sinn heißt: Die Verwandten besuchen den Kranken nicht im Hospital und leisten auch keine finanzielle Hilfe.

Einspruch - so egoistisch ist Deutschland doch gar nicht. Gleichwohl rät beispielsweise der Internationale Währungsfonds, die europäischen Rettungsfonds auf rund eine Billion Euro zu verdoppeln. Meinen auch Sie, die stabilen Staaten sollten noch mehr Geld zur Verfügung stellen, um die Krise zu beenden?

reuters
Im Interview: JOSEPH STIGLITZ

68, ist Professor an der Columbia University in New York. 2001 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten über Märkte mit asymmetrischen Informationen.

Ja, größere finanzielle Verpflichtungen sind notwendig. Ich schlage vor, dass die Mitglieder der Eurozone gemeinsame Staatsanleihen herausgeben. Durch die Garantie aller würden die Zinsen sinken, die Griechenland oder Portugal an den Rand des Bankrotts drängen. Zum Vergleich: Wenn nicht die US-Regierung Staatsanleihen herausgeben würde, sondern jeder einzelne Bundesstaat, wäre Kalifornien längst pleite.

Auch Eurobonds sind Schuldscheine von Staaten, in die die privaten Investoren allmählich das Vertrauen verlieren. Liegt nicht die bessere Lösung darin, dass die Europäische Zentralbank (EZB) eine unbegrenzte Garantie für die Eurozone übernimmt?

Grundsätzlich sollte eine Zentralbank nicht die Regierungen finanzieren. Im Augenblick allerdings ist es ratsam, eine Ausnahme zu machen. Wobei die EZB gegenwärtig den falschen Weg beschreitet. Für die Demokratie ist es nicht gesund, wenn die Zentralbank den Banken hunderte Milliarden Euro zu Niedrigzinsen leiht und die Institute diese Mittel für viel höhere Zinsen an die Regierungen weitergeben. So verdienen die Banken Milliarden, worüber die Steuerzahler zu Recht sauer sind. Viel besser wäre es, wenn die EZB die Staatsanleihen den Staaten direkt abkaufen würde - ohne Umweg über die Banken.

Ist Merkel die brutale Sparkommissarin, als die sie im Ausland oft dargestellt wird?

Auch ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik zu einseitiges Gewicht auf fiskalische Disziplin legt.

Ist diese Disziplin angesichts der hohen Staatsschulden nicht ein Teil der Antwort?

Fiskalische Disziplinlosigkeit zu vermeiden hilft zweifellos, eine ähnliche Krise für die Zukunft zu verhindern. Aber sie ist keine Antwort auf die aktuellen Probleme. Dadurch sinken weder die Zinsen noch sinkt die Arbeitslosenquote in Griechenland.

Sie sind dafür, mehr öffentliches Geld einzusetzen, um das Wachstum anzukurbeln.

Das ist unbedingt notwendig. Europaweites Sparen reicht nicht aus, um die Krise zu überwinden. Und dafür braucht man auch mehr Geld. Deutschland sollte einen besonderen Ansatz verfolgen. Ihr Land trägt Verantwortung dafür, seinen Exportüberschuss zu verringern, und mehr Importe aus anderen Ländern tätigen.

Das ließe sich erreichen, indem die Bundesregierung einerseits die Nachfrage stärkt. Eine Umverteilung von Einkommen von oben nach unten mittels der Steuerpolitik und stärkere Lohnerhöhungen als im vergangenen Jahrzehnt wären richtige Maßnahmen. Helfen können außerdem öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und eine klimafreundliche Energieversorgung. Hier kommt die Solidarität wieder ins Spiel. Man muss in Europa gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen in welchem Land am sinnvollsten sind.

Halten Sie es für den richtigen Weg, die europäische Integration voranzutreiben?

Auf jeden Fall. Aber eine intensivere Kooperation in Europa bedeutet mehr als finanzielle Handschellen. Ein gemeinsames Gefängnis zu bauen ist keine politische Vision. Dazu gehören ein Sozialpakt zwischen Regierungen und Bürgern, eine abgestimmte Finanzpolitik und gemeinsame Institutionen.

Kann Europa ein Modell für andere Weltregionen sein?

Ja, und es wäre dann auch ein Modell dafür, was man tun muss, um eine funktionierende Union unabhängiger Staaten zu verwirklichen. Der gemeinsame Markt ist zwar eine gute Sache, aber freier Handel ist nicht alles. Auch eine gemeinsame Währung ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg. Man muss darüber hinausgehen zu einer politischen Union, die aber auch soziale Mindeststandards zugunsten der Bürger garantiert.

Wird Europa die Krise lösen?

Wenn es gelingt, die nächste Stufe der politischen Union zu erreichen, ist die Wahrscheinlichkeit, der Krise Herr zu werden, hoch. Wichtig ist aber, dass die Staaten wirkliche Solidarität praktizieren. Sonst machen die Bürger nicht mehr lange mit.

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6 Kommentare

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  • SM
    Siegbert Muhsal

    Die Amerikaner wollten schon immer das Beste. Und was

    das Beste an den Deutschen ist, ist ja auch bekannt.

  • D
    deutscherExportWAHN

    Plausibel erscheint es, den Exportüberschuss zu fokusieren.

    EXPORT auf PUMP ist eine innereuropäische Illusion von deutschem Erfolg. Doch die deutsche Wirtschaft insgesamt profitiert NICHT von Lieferungen, die letztlich nicht aus den Importländern Griechenland, Portugal, Belgien, etc. bezahlt werden, sondern von deutschen Steuerzahlern.

     

    Äußerst indirekt wirksam aber sind zum Exportüberschuss die Handlungsempfehlungen von Stiglitz: Wie hilft die zusätzliche Lehrerstelle, der Kindergarten- und Windparkbau in Hessen den griechichen Exporteuren? Wie hilft das in Griechenland griech. Firmen im Wettbewerb mit deutschen Exporteuren?

    Zeitweise Zollvergünstigungen für Griechenland in Abstimmung mit der WTO wären weit wirksamer.

     

    Kontraproduktiv ist die Idee gleicher Sozialstandards. Oberhalb von Mindeststandards müssen Sozialstandards die Produktivitätsunterschiede verrindern. Die Wettbewerbsfähikeit steigt, wenn in Griechenland Gesetze die Arbeitszeiten abrupt verlängern bei unveränderten Jahreslöhnen.

  • S
    Schattenfels

    Wer heutzutage alles einen Nobelpreis erhält... Obama, Arafat, Stiglitz! Meine Güte!

     

    Falsch ist schon mal der Vergleich Griechenlands mit einem Lungenkrebspatienten. Ist Griechenland etwa dem Tode geweiht, Herr Stiglitz? Nein, es hat eine Zukunft! Ich würde GR eher mit einem Heroinsüchtigen vergleichen, der auf Entzug gesetzt gehört: Schluss mit der Droge zu billigen Geldes, ein kalter Entzug ist solidarischer als das Besorgen immer neuen Stoffs, Deutschland schaut auch mal in der Klinik vorbei, versprochen!

     

    Dass Stiglitz bis heute nicht begriffen hat, dass zu billiges Geld nicht die Lösung, sondern die Ursache für das Aufpumpen von immer größeren Blasen ist, die unweigerlich platzen müssen und immer schwerere Krisen verursachen, ist erstaunlich. Die selbe Politik, die in Amerika zur Immobilenblase geführt hat und später Mitauslöser der Bankenkrise war, soll jetzt Wunder bewirken?

    Und die Verschuldung der Staaten in Europa soll jetzt durch einen direkten Ankauf der EZB geschehen? Super "Lösung", der lender of last resort wird nur ein anderer, die Probleme werden lediglich auf eine andere Institution übertragen. Dass diese sich dann irgendwann das Geld selber drucken wird (weil sie es kann) wird unweigerlich in der Inflation enden, die die Geringverdiener am härtesten trifft. "Solidarität" mit den Staatshaushalten, nicht mit den Bürgern ist das Ergebnis. Hinzu kommt, dass zukünftige Generationen vor einen immer größeren Scherbenhaufen gestellt werden, Generationengerechtigkeit ade! Es denke doch mal jemand an die Kinder ;)

     

    Solidarität beruht doch immer noch auf Freiwilligkeit, in Deutschland, dem Geberland, ist (natürlich) niemand gefragt worden, ob er den EURO will, oder ob er sich der EU-Verfassung (dem "Vertrag" von Lissabon) unterwerfen will. Fragen wir doch einfach mal die Bürger, was sie von den teuren Visionen der Eurobürokraten halten. Aber die Demokratie ist natürlich der größte Feind der Konstruktivisten und Planwirtschaftler.

  • G
    Gallier

    Europa ist nicht mit den USA vergleichbar. Amerika ist ein homogenes Staatsgebilde mit einem Wirtschaftssystem und einer Amtssprache usw.

    Die europäischen Regierungen befinden sich in einer Falle, aus die nur ein Crash befreien kann. Sparen heisst Negativwachstum, das das wiederum führt zur Unfähigkeit der Schuldentilgung.

    Ferner war/ist es doch ein Irrsinn, von Griechenland Wirtschaftsleistungen zu verlangen, die das Land auch in 30 Jahren nicht wird liefern können.

     

    Deutschland wird, selbst wenn es dazu bereit wäre, auf Dauer nicht für halb Europa Hilfe leisten können.

    Und insbesondere nicht bei diesen unsicheren Konjunturaussichen.

  • K
    KFR

    ... vermutlich ist es billiger die Verlust-Abschreibungen und Forderungen der deutschen Rüstungs-Konzerne und finanzierenden Banken direkt zu begleichen ( sozialisieren);

    Alternativen, wie Zwangs-Verwaltung oder die Überschreibung der Insel Kreta, verbieten sich schon wegen der deutschen Vergangenheit.

  • S
    saalbert

    "Ihr Land trägt Verantwortung dafür, seinen Exportüberschuss zu verringern, und mehr Importe aus anderen Ländern tätigen." - Ein zusätzliches "zu" vor "tätigen" wäre nicht schlecht.