Öffentlicher Nahverkehr in Berlin: Das lange Kreißen der S-Bahn
Bis Dienstag konnten sich Unternehmen für den Betrieb zweier S-Bahn-Strecken bewerben. Es ist ein geheimnisvolles, risikoreiches Projekt.
„Der teure und bürokratische, durch Verzögerungen und Pannen geprägte Ausschreibungsschlamassel muss sofort beendet werden“, sagt Jorinde Schulz, eine Sprecherin des Bündnisses. Doch beim VBB, der gegenüber dem Ostbahnhof seine Büros hat, reagiert niemand. So was habe er bei den vielen Kundgebungen für den Erhalt der S-Bahn noch nicht erlebt, empört sich Schulz' Kollege Carl Wasmuth.
Die geschlossenen Türen stehen ebenso symbolisch für dieses milliardenschwere Projekt der scheidenden grünen Verkehrssenatorin Regine Günther. Und wahrscheinlich wird sich an diesem 2. November 2021 entschieden haben, ob es überhaupt klappt. Denn am Dienstag, 24 Uhr, endete die Frist für Unternehmen, Angebote abzugeben – für den Betrieb der Teilnetze Nord–Süd und Stadtbahn der S-Bahn. Ausgeschrieben sind sie ab 2027 beziehungsweise 2028.
Sonderlich viele Informationen dazu bekommt man auch auf Nachfrage nicht; die meisten Beteiligten wollen sich nicht äußern und begründen dies mit dem laufenden Ausschreibungsverfahren. Der Noch-Monopolist S-Bahn Berlin GmbH gehört zur Deutsche Bahn AG – dort mag eine Sprecherin noch nicht einmal bestätigen, dass man sich überhaupt beworben hat.
Man schweige in der Nahverkehrsbranche erstaunlich laut über die durchaus lukrative Ausschreibung, sagt ein Branchenkenner der taz. Und ein Sprecher des VBB sagt, man habe lediglich die Rolle des „Vergabebüros“ bei der Ausschreibung, prüfe also etwa, ob alle Kriterien bei den Bewerbern erfüllt sind. Deshalb wolle man „aus rechtlichen Gründen“ den Dokumentarfilm des Bündnisses auch nicht annehmen.
Angesichts dieser Schweigsamkeit dürfte es dauern, bis überhaupt bekannt wird, wie groß der Kreis der Bewerber ist. Wenn es überhaupt ein Kreis wird: Der RBB geht lediglich von zwei sicheren Kandidaten aus und beruft sich auf „Insider“.
Das Verfahren ist tatsächlich kompliziert. Jeden Fehler könnten unterlegene Bewerber später für Klagen nutzen. Auch die Ausgangslage hat es in sich. Bisher betreibt die S-Bahn Berlin GmbH die nach ihr benannte S-Bahn mit ihren drei Teilstrecken Nord–Süd, Stadtbahn und Ring allein. Das wurde zum Problem, als nach einem Radbruch 2009 ein großer Teil der Flotte in die Werkstatt musste.
Denn die Bahn AG hatte zuvor die Reparaturkapazitäten stark reduziert, um fit für den damals geplanten Börsengang zu werden. Zwar bestellt und finanziert das Land Berlin den Nahverkehr – doch ein anderer Anbieter, den das Land hätte beauftragen können, stand eben nicht zur Verfügung.
So konnte sich das legendär gewordene S-Bahn-Chaos über Jahre hinziehen: Ausfallende, unregelmäßig verkehrende oder verkürzte Züge wurden zur Dauerbelastung für Pendler*innen und Politik. Die S-Bahn benutzt ein einzigartiges Spursystem – mögliche Wettbewerber müssen sich genau überlegen, ob sie die hohen Investitionen in einen Fuhrpark wagen, den sie nirgendwo sonst einsetzen könnten.
Das Land kauft den Fuhrpark selbst
Deshalb versucht der rot-rot-grüne Senat die Hürden für Konkurrenten zu senken, indem das Land selbst die rund nötigen 1.300 S-Bahn-Waggons kauft – für rund 3 Milliarden Euro. Der oder die künftigen Betreiber dürfen sie dann nutzen. Nach vielen Debatten vor allem mit den Linken brachte Günther im August die Ausschreibung an den Start.
Bewerben können sich Unternehmen auf vier Bereiche, genannt Lose: jeweils den Betrieb der beiden Strecken, dazu die Beschaffung und Instandhaltung des Fuhrparks. Die künftigen Verträge über den Betrieb sollen 15 Jahre lang laufen, die Verträge zur Instandhaltung 30 Jahre. Laut Senat beträgt das Volumen aller Aufträge etwa 8 Milliarden Euro. Die Entscheidung soll bis Oktober 2022 fallen.
Von dem erstmals möglichen Wettbewerb erhofft sich Senatorin Günther vernünftige Preise bei dauerhaft guter Qualität und großer Betriebssicherheit, wie sie 2020 erklärte. Die Senatorin ist damit ganz auf der Position des Lobbyverbands Mofair, eines Bündnisses für fairen Wettbewerb im Schienenpersonenverkehr.
Vor allem im Rahmen der ersten Ausschreibung würden die Unternehmen deutlich ihre Preise senken, sagt Mofair-Geschäftsführer Matthias Stoffregen der taz. Das käme dem Land und so letztlich den Steuerzahler*innen zugute – das zeigten die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte in allen anderen Bundesländern. Dort sei auch erkennbar: Die Qualität leide darunter nicht.
Doch auch Mofair bringt sich in Stellung, falls die Ausschreibung kippen sollte und letztlich die S-Bahn Berlin GmbH zum Zug käme: Ein von dem Bündnis erstelltes und der taz vorliegendes Gutachten hält die – vermutete – Teilnahme eines Joint Ventures von Deutscher Bahn und den Bahnherstellern Siemens und Stadler an der Ausschreibung für unzulässig. Der Zusammenschluss der drei Firmen sei aus vielerlei Gründen eine „wettbewerbsverfälschende Vereinbarung“. Medienberichten zufolge haben Bahn, Stadler und Siemens zwei gemeinsame Firmen gegründet; öffentliche Bestätigungen dafür gibt es jedoch – keine.
Auf der anderen Seite macht das Bündnis Eine S-Bahn für alle Druck. Statt einer möglichen Zersplitterung in viele Betreiber fordert es einen Kauf der S-Bahn Berlin GmbH durch das Land. Die Initiative nennt die jetzt geplante Vergabe „Privatisierung“, aus ihrer Sicht drohen Lohnkürzungen, Entlassungen und die Schließung von Werkstätten. Letztlich würde sich der Service deutlich verschlechtern. Bisher ist die Deutsche Bahn jedoch nicht gewillt, ihre einträgliche Tochter zu verkaufen – obwohl der Senat sogar gern zuschlagen würde.
Initiative fordert mehr Druck von der Politik
Doch die Initiative vermisst den politischen Druck: Bisher habe es gar keine richtigen Verhandlungen gegeben, sagt Jorinde Schulz von der Initiative. „Dass die Bahn nicht verkaufen will, ist bloß eine Ausrede. Wir brauchen einen konkreten Vorstoß zum Kauf des Unternehmens“, sagte sie der taz.
Inzwischen scheint dieser auf dem Weg zu sein. Linksfraktionschef Carsten Schatz verriet unlängst auf einem Parteitag, man habe sich bei den Sondierungen mit Grünen und SPD darauf verständigt, die S-Bahn kaufen zu wollen. Schriftlich festgehalten worden sei das nicht – aus rechtlichen Gründen. Man wolle nicht in Konflikt mit der laufenden Ausschreibung geraten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen