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ÖTV HAT NOCH MAL DAS GESICHT GEWAHRT – MIT DEM LAUFZEITTRICKEine Frage der Rechnung

100 Mark haben die ÖTV gerettet. 100 Mark mehr im Monat, rückwirkend für April bis Juli, für jeden, im Osten wie im Westen. Das ist die Einmalzahlung, die „soziale Komponente“ der Tarifeinigung im öffentlichen Dienst. Dieses Geld wird ÖTV-Chef Herbert Mai helfen, das Gesicht zu wahren.

Denn was die gesamten Lohnerhöhungen betrifft, hat die ÖTV durch den jetzt akzeptierten Tarifkompromiss wenig gewonnen. Es ist der alte Trick mit der Laufzeit: Wenn ein Tarifvertrag lange läuft, dann können höhere Prozente vereinbart werden, als wenn ein Tarif nur für einen kurzen Zeitraum gilt. Nach einer kurzen Laufzeit muss bald wieder neu verhandelt und erhöht werden, das kostet am Ende genauso viel, wie wenn gleich höhere Prozente ausgemacht und die Laufzeit gestreckt wird. Das alte Arbeitgeberangebot hätte 24 Monate lang gegolten. Die jetzt erfolgte Tarifeinigung läuft 31 Monate.

Die ersten vier Monate davon werden jedem Beschäftigten statt einer prozentualen Erhöhung monatlich 100 Mark gewährt. Solche Einmalzahlungen kommen sozial gut an: Die geringer bezahlten Arbeiter erhalten proportional mehr, die Hochverdiener hingegen weniger. Da die Ost-Beschäftigten sonst tariflich schlechter gestellt sind als die West-Kollegen, bekommen auch sie überproportional mehr durch die 100 Mark. Das Image der Gewerkschaft ist gerettet. Trotzdem gibt der jetzt beigelegte Tarifstreit zu denken.

Selten zuvor drängte sich der Eindruck so stark auf, dass am Ende nur noch um symbolische Zahlen gerungen wurde. Erstens war die zusätzliche Lohnforderung, um die gestreikt werden sollte, sehr gering. Zweitens zeigte das knappe Ergebnis der Urabstimmung, dass viele Mitglieder nicht für einen Arbeitskampf waren. Drittens kündigte ÖTV-Chef Herbert Mai vorsorglich an, dass man mit dem Streik möglichst keinem Bürger weh tun wolle. Der öffentliche Spielraum für Tarifkämpfe, so erweist sich, ist minimal geworden. Das jetzt erzielte Ergebnis hat über die Jahre gesehen mehr symbolischen als finanziellen Mehrwert für die Beschäftigten gebracht. Die ÖTV muss aufpassen, sich nicht lächerlich zu machen. Diese Gefahr ist ernst zu nehmen. BARBARA DRIBBUSCH

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