Occupy und Arabellion: Was von den Aufständen übrig blieb

2011 war das Jahr des Arabischen Frühlings und von Occupy. Gescheitert sind beide – aber die Gründe, sich zu empören, sind nicht verschwunden.

Illustration: Zelte, Anonymous-Masken und Transpis auf einem Haufen

Illustration: Katja Gendikova

Vor einem Jahrzehnt lautete der Schlachtruf der Stunde: „Empört euch!“ Er stammte von dem ehemaligen Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel, der die junge Generation damit ermuntern wollte, über die Notlagen und sozialen Missstände ihre Empörung kundzutun. Sowohl in der Arabellion, die im Dezember 2010 in Tunesien ausgebrochen war, als auch während der im September 2011 in Manhattan gestarteten Occupy-Bewegung war Empörung das zentrale Motiv.

Während sich die Proteste in den arabischen Ländern gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch richteten und damit ihre jeweiligen Machteliten angriffen, bezogen sich die der Occupyer nicht auf einzelne Regime, sondern auf ein ganzes System – das der Banker und Broker, die in ihren Augen nichts anderes als ihre Profitmaximierung im Sinne hatten.

Insgesamt war das eine Misstrauenserklärung, die sich gegen ein entfesseltes Finanzsystem und dessen zunehmend unkontrollierteren Einfluss auf die Politik richtete. Insofern ging es also auch um die Demokratie. Um mehr Demokratie, eine bessere Form von Demokratie, aber nicht unbedingt um einen Bruch mit der Verfassung, der Gewaltenteilung und dem Rechtsstaat.

Da sich die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen – auch durch eine ungerechte Steuergesetzgebung – über viele Jahre hinweg ausgeweitet hatte, war das Misstrauen gegenüber Abgeordneten und Regierungsmitgliedern so weit angestiegen, dass von einem elementaren Argwohn gegenüber den demokratischen Institutionen als solchen gesprochen werden konnte.

Lieber Plebiszit als Revolution

Daher praktizierten die Anhänger der Occupy-Bewegung in ihren überall auf der Welt errichteten Protestcamps eine Form der Basisdemokratie. Auf den von ihnen in den Großstädten besetzten Plätzen sollten alle wesentlichen Entscheidungen möglichst plebiszitär gefällt werden. Auf den Generalversammlungen hatten alle das gleiche Recht, sich zu äußern und abzustimmen.

Diese demonstrative Form direkter Demokratie war Ausdruck eines Vertrauensschwunds gegenüber den Einrichtungen des parlamentarischen Systems. Dieses Misstrauen war aber nicht so stark, dass es sich – von einzelnen Stimmen abgesehen – gleich im Ruf nach einer Revolution, nach dem Sturz des politischen Systems Luft zu schaffen versucht hätte.

Erheblich anders sah das hingegen in verschiedenen Ländern Nordafrikas, des Nahen und des Mittleren Ostens aus. Dort bestand das primäre Ziel der Rebellen darin, ihr jeweiliges Regime zu Fall zu bringen und die Autokratien durch demokratische Systeme zu ersetzen.

Und das gelang in einigen Staaten überraschend schnell. Dort ging es von Anfang an also um mehr als nur um Reformen. Die Krise reichte bis zu den Grundfesten des jeweiligen Herrschaftssystems hinab. Insofern waren die in den arabischen Ländern in Gang gekommenen Aufstände Ausdruck einer sehr viel tiefer reichenden sozialen Erschütterung.

Reform statt Klassenkampf

Die Occupy-Bewegung verkörperte tatsächlich eine weltumspannende Bewegung. Sie trug das Adjektiv „global“ völlig zu Recht. Allen egalitären Tendenzen zum Trotz handelte es sich bei ihr jedoch um keine „linke“ Bewegung im eigentlichen Sinne. Sie war weder strikt antikapitalistisch noch in einem marxistischen Sinne klassenkämpferisch geprägt.

Reformerische Ziele standen im Vordergrund. Es ging ihr um eine grundlegende Korrektur des Banken- und Finanzsystems ebenso wie um eine Erneuerung der Politik. Den meisten ihrer Aktivistinnen und Aktivisten ging es weder um die Abschaffung des Kapitalismus noch um die Auflösung der parlamentarischen Demokratie. Sowohl von ihren Trägern als auch von ihren Zielsetzungen her dominierten in ihr am ehesten die Exponenten einer Mittelschichtenbewegung.

Trotz hoher Zustimmungsraten und großer medialer Aufmerksamkeit gab es allerdings nur wenig Grund, diese Bewegung zu überschätzen und für eine politisch tatsächlich wirksame Kraft zu halten. Sie verfügte über keine mächtigen Hebel wie Gewerkschaften etwa, die Betriebe bestreiken und damit ganze Produktionszweige lahmlegen können. Von Anfang an war nicht zu übersehen, dass sie wohl kaum dazu in der Lage sein würde, direkt auf politische Entscheidungsträger einzuwirken und auf diesem Wege gravierende Veränderungen zu bewirken.

Seht her, das habt ihr aus uns gemacht

Im Nachhinein lässt sich die Occupy-Bewegung vor allem als Anklage und Hilferuf verstehen. Das wichtigste Signal, das von den zumeist in den Bankenvierteln errichteten Protestcamps ausging, lautete: Seht her, das habt ihr mit uns gemacht! Dabei haben wir genau das getan, was ihr von uns erwartet habt: Wir haben studiert und einen Universitätsabschluss gemacht. Aber ihr habt uns nur wenig Respekt entgegengebracht und uns in den allermeisten Fällen nicht mit einer Anstellung belohnt. Zu einem Zeitpunkt, an dem es mit unserem Leben endlich Ernst werden sollte – mit Beruf und Status, mit Ehe oder Partnerschaft, Kindern und Familie –, wissen wir nicht mehr weiter.

Wir fühlen uns im Stich gelassen. Und wir sind nicht einfach ein paar wenige Außenseiter, wir sind richtig viele. Wenn wir scheitern, dann wird etwas von der Gesellschaft im Ganzen wegbrechen und damit auch ein Teil unser aller Zukunft.

Allen Occupy-Gruppierungen war gemeinsam, dass sie ihre ambitionierten Ziele nicht erreichen konnten. Sie verloren relativ rasch an Schwung. Noch während sie im Gange waren, zeichnete sich am Horizont fast unvermeidlich jenes Schicksal ab, das für die meisten Jugendbewegungen noch immer Gültigkeit besaß – der Misserfolg in ihren wesentlichen Zielsetzungen. Banken, Börsen und das internationale Finanzsystem so weit zu verändern, dass im Finanzsektor aufbrechende Krisen künftig verhindert oder zumindest abgefedert werden könnten, hatte sich als ein zu großer Brocken erwiesen.

Auch hinsichtlich der Arabellion kommt man kaum umhin, von einem Scheitern zu sprechen. In Tunesien konnte eine Autokratie durch eine Demokratie ersetzt werden. Aber das war die Ausnahme. Die Aufstände in Ägypten, Syrien, Libyen und Jemen, in denen die Protestierenden 2011 mit so viel Elan, Opferbereitschaft und Hoffnung ­angetreten waren, endeten mit Fehlschlägen.

Das Desaster der Arabellion

Bloß von einem Scheitern zu sprechen klingt bei einigen der erwähnten Fälle inzwischen beinahe zynisch. Denn in den drei letztgenannten Ländern waren aus Protesten Aufstände, aus Aufständen Bürgerkriege und daraus wiederum Kriege geworden, die irgendwann von externen Mächten dominiert worden sind und die Gestalt von Stellvertreterkriegen angenommen hatten. Das sind überaus tragische Folgen, die sich zu Beginn unter den Protestierenden wohl kaum jemand hätte vorstellen können.

Was also bleibt von den Hoffnungen und Träumen von damals? Zumindest die Frage, ob die mutmaßlichen strukturellen Ursachen der Arabellion ebenso wie die der Occupy-Bewegung immer noch fortexistieren. In meinem Buch „Aufruhr der Ausgebildeten“ von 2012 habe ich die These vertreten, dass die Wurzeln für die spektakulären Proteste der Jahre 2011/2012 in ihrem Kern in einem Widerspruch zwischen guter Ausbildung einerseits und mangelnder Integration der Ausgebildeten in den Arbeitsmarkt andererseits lägen.

Ein Aufstand der Ausgebildeten

So unterschiedlich die Vorgänge an der Wall Street in Manhattan und auf dem Tahrir­platz in Kairo von ihrer Phänomenologie her auch sein mochten – sie waren vor allem von akademisch qualifizierten jungen Erwachsenen initiiert worden, denen der Zugang zu Berufsfeldern, die ihren Qualifikationen angemessen gewesen wären, überwiegend versperrt war.

Interessanterweise ist der britische Historiker Niall Ferguson, der 2019 wegen der global zu beobachtenden enormen Zunahme an Protestereignissen den Zusammenhang zwischen Bildung und Protestbereitschaft näher untersucht hat, zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Der „Überschuss an jungen qualifizierten Leuten“, so die These des marktradikalen wie konservativen Ferguson, sei der wahre Grund, warum sie weltweit massenhaft und von Chile bis Hongkong auf die Straßen gehen würden.

Er bezog sich dabei auf Daten der Weltbank aus dem Jahr 2016. Demnach ist der Anteil von jungen Erwachsenen mit Hochschulbildung im Verhältnis zu ihrer Altergruppe seit den 80er Jahren weltweit stark angestiegen. In Ägypten etwa von 15 auf 34 Prozent, in Frankreich von 34 auf 64, in Hongkong von 13 auf 72 und in Chile gar von 18 auf 90 Prozent. Unter dieser Voraussetzung hätten sich Proteste insbesondere in jenen Ländern ausgebreitet, in denen eine besonders große Kluft zwischen akademischer Bildung und einer den erworbenen Qualifikationen angemessenen Beschäftigung existierte.

Das materielle Sein und das politische Bewusstsein

Fergusons Rede vom „Überschuss an jungen qualifizierten Leuten“ klingt nun allerdings eher nach der Diagnose eines Sozial­ingenieurs als dem empirisch unterfütterten Ergebnis eines Sozialwissenschaftlers. Ganz so, als komme es bei den jeweiligen Protesten nicht so sehr auf ihre Inhalte und die den Aktionen zugrunde liegenden Motive an, sondern allein auf die darin verborgene Dysfunktionalität in dem Wirtschafts- und Finanzsystem.

Ein Jahrzehnt nach den sich überschneidenden Rebellionen im arabischen Raum wie in der westlichen Welt wäre es allerdings eine Herausforderung, die sozial­empirische Diskrepanz zwischen den akademisch Ausgebildeten und ihrer Bereitschaft, sich ihrem Schicksal nicht einfach zu fügen, sondern weiter auf die Straßen zu gehen, um Autokratien ebenso wie menschen- und umweltverachtende Finanzsysteme zu bekämpfen, näher zu untersuchen. Es spricht viel dafür, dass die sozialen Ungerechtigkeiten, die die jungen Leute auf die Barrikaden getrieben haben, unvermindert weiter fortexistieren.

Das ist zumindest in Ägypten so, wo nach dem Militärputsch von Generalfeldmarschall al-Sisi das Rad auf den Stand des Mubarak-Regimes zurückgedreht worden ist. In Tunesien hat man die demokratische Revolution nicht zu Unrecht gefeiert. Doch die sozialen Missstände, deretwegen sich der gebildete Straßenhändler Mohamed Boua­zizi im Dezember 2010 in voller Verzweiflung angezündet hatte, sind keineswegs geringer geworden. Die Gründe, sich zu empören, sie sind nicht verschwunden.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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