Occupy Wall Street: Oh Sh*t. Das Volk is da
Am Tag 27 der Besetzung demonstrieren wieder Tausende in New York. Um sich an die Gesetze zu halten, bleiben sie auf den Trottoirs. Doch die Polizei verhaftet wieder 80.
NEW YORK taz | Der Himmel ist strahlend blau. Die Transparente überborden vor Phantasie. Und die Occupy-Wall-Street-DemonstrantInnen halten sich an die Regel, nur auf dem Trottoir zu gehen, setzen keinen Fuß auf die Fahrbahn. Und machen Halt an roten Ampeln Halt. Aber die New Yorker Polizei kann es nicht lassen: Am internationalen Aktionstag verhaftet sie erneut mehr als 80 Personen aus der Occupy-Wall-Street Bewegung. Davon 24 in der Citibank. Sie hatten am Mittag in der Zweigstelle am La Guardia Platz gegen Räumungsklagen und andere betrügerische Praktiken protestiert.
Die meisten anderen Festgenommenen enden am Abend am Times Square mit auf dem Rücken gefesselten Händen in Polizeiwannen. „Wem gehört der Platz“, rufen draußen andere DemonstrantInnen: „Die ganze Welt schaut zu“. Und skandieren an die Adresse der immer neu nachrückenden Polizisten in Kampfuniform, auf Scootern und auf Pferden: „Wen beschützt ihr eigentlich?“ Tief in der Nacht kommt es in dem Park Washington Square erneut zu Spannungen zwischen Polizei und BesetzerInnen.
In der Zeitrechnung der Occupy-Bewegung ist es der 27. Tag. Die BesetzerInnen sind schon am Morgen von ihrem Quartier auf der Liberty Plaza im Finanzviertel losgezogen. Sie haben Halt vor mehreren Banken gemacht. Und sind zum Washington Square gezogen, wo tausende StudentInnen von der benachbarten Universität zu einer Vollversammlung unter freiem Himmel kommen.
„Ich bin Lorraine und ich bin glücklich, hier zu sein“, sagt eine junge Frau in das „menschliche Mikrofon“. Hunderte Menschen wiederholen ihre Worte, bis sie in den hintersten Reihen der Versammlung angekommen sind. Dann fährt Lorraine fort: „Auf dies hier, habe ich seit 20 Jahren gewartet. Seit Reagan“. Wieder fluten ihre Worte in einer akustischen Welle über die Menschenmenge.
Demonstration auf den Trottoirs
Ein paar Meter weiter halten ÄrztInnen und Krankenschwestern aus New Yorker Klinken eine Vollversammlung in Weißkitteln ab. Der Arzt Steve Auerbach sagt über das „menschliche Mikrofon“, dass „in dem reichsten Land der Welt“ alljährlich 45.000 Menschen sterben, weil sie „unterversichert“ sind. Und dass die Gesundheitsreform von Barack Obama an den Grundproblemen von an Gewinn orientierten privaten Versicherungen und der teuersten Medizinversorgung der westlichen Welt nichts verbessert habe.
Diese ÄrztInnen engagieren sich seit Jahren für eine tiefgehende Gesundheitsreform. Ihr Motto lautet: „Alle rein. Niemand raus.“ Sie verlangen eine einheitliche und staatliche Gesundheitsversorgung für alle. Als Vorbilder dafür dienen ihnen Kanada und Taiwan. Seit dem Beginn der Occupy-Bewegung finden sie erneut Gehör für ihr zwischendurch von dem rechten Getöse aus der Tea Party untergegangenen Anliegen.
Am späten Nachmittag bewegen sich mehrere Demonstrationszüge durch Manhattan. Ziel ist Times Square. Der Platz mit den Theatern. Mit der Rekrutierungsstelle der Armee. Und mit Leuchtreklamen. Keine Demonstrationsroute ist angemeldet. Um dennoch gesetzestreu zu bleiben gehen die Menschen auf den Trottoirs. Die Polizei bildet dichte Ketten, um sie vom Autoverkehr zu trennen. Auf beiden Trottoirs tönt aus kompakten Menschenmengen der Schlachtruf: „wir sind die 99 Prozent“. Unterbrochen von: „Die Banken haben Rettungsprogramme bekommen. Wir sind ausverkauft worden.“
Mitten im Gewühl sagt ein Gitarrenlehrer, der zum ersten Mal mit Occupy-Wall Street demonstriert: „dies ist ein Slogan-Wettbewerbt“. Unterwegs, im Gehen, entstehen immer neue beschriftete Kartons. „Stoppt den Sozialismus für Reiche“, steht auf einem. Ein Mann in Unterhose trägt ein Schild mit der Aufschrift: „Arbeitsloser nackter Cowboy“. Dann hält jemand eine neue Kreation hoch: „Willkommen in der Realität“. Was er dabei empfindet? „Glück“, sagt der junge Mann. Ein Schüler aus New Jersey.
"Die Welt wird, was wir daraus machen"
Viele sind an diesem globalen Aktionstag zum ersten Mal selbst zu der Bewegung gestoßen. Der 57jährige John Bird hat in den vergangenen Wochen aus der Ferne zugeschaut, glaubt, dass sie die Chance für einen Wandel ist und hat auf sein Transparent geschrieben: „native Americans" für „wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit“. Er zitiert einen Kalender der Mayas, der nur bis ins Jahr 2012 reicht. Darin sieht er eine Verpflichtung. „Die Welt die danach kommt“, sagt er, „wird das, was wir selbst daraus machen.“
Alle glauben, dass die Occupy-Bewegung, die die New Yorker Polizei am Vortag von ihrem Platz im Finanzdistrikt räumen wollte, etwas Neues für die USA ist. Und dass sie täglich größer wird und klarere Positionen entwickelt. Der Anwaltsgehilfe Nathan Riedy aus Pennsylvania, sagt: „Es geht uns nicht um Almosen, sondern um Grundsätzliches.“ Er hat für Obama gestimmt und wird es wieder tun. Er demonstriert nicht gegen seinen Präsidenten. Aber bezeichnet ihn als „Teil des Systems“.
Cameron Kelly, die im Norden von New York ein Fitnesstudio betreibt, hat mehrfach auf dem Platz übernachtet. Sie war schon als Schülerin gegen den Vietnamkrieg auf der Straße. Später gegen andere Kriege und für Umweltfragen. Aber die Occupy-Bewegung ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie das Gefühl hat, dass es nicht mehr um einzelne Punkte geht und auch nicht mehr darum, Kongressabgeordnete zu „erziehen“. Sondern „ums Ganze“.
Sie sagt: „diese Leute haben etwas verstanden, das uns früher nicht klar war. Sie gehen direkt jene an, für die Kriege Profite und neue Ressourcen bedeuten.“ Ein Vorbild für die USA sieht sie in einem kleinen und verfeindeten Nachbarn: Kuba. „Das ist ein armes Land“, sagt sie, aber „die Schulen sind gratis und alle haben eine Gesundheitsversorgung“.
"Oh Sh*t. We the people are here."
Was aus der Occupy-Bewegung wird, ist offen. Sie ist, vier Wochen nach ihren ersten Anfängen, noch dabei sich zu zählen und die vielfältigen Sorgen und Wünsche zusammenzufassen. Die 24jährige Becky Herman aus New York will noch nicht von einem „lang anhaltenden Erfolg“ sprechen. Ihr Transparent verlangt das „Ende der Militärhilfe für Israel: Steuergelder für Erziehung und Gesundheit“. Dieses Thema sprechen nur wenige an.
Vor der Chase-Bank am Times Square schwingt ein junger Mann sein Schild: „Banken stehlen Häuser“. Vom Dach von Doppeldeckerbussen fotografieren TouristInnen die Menge. Ein Polizist ruft ins Megaphon: „verlassen Sie den Square“. Der Briefträger Eric Fernandez, 31, wartet ab. Wozu? „Ich will mich vor allem zeigen. Gegen den Laissez-Faire-Kapitalismus.“
Im Gewühl neben ihm schaut Charlotte Souza auf die heranrückenden Polizeiketten. Die 23jährige lebt seit zwei Wochen auf der Liberty Plaza. Ihren Job in einer Küche für 5,80 Dollar die Stunde hat sie gekündigt. Auf ihrer schwarzen Lederjacke trägt sie den Sticker: „Eat the rich“. Und eine große US-Fahne. Sie sagt: „Ich kann nicht verstehen, wie wir es zulassen konnten, dass die Kluft zwischen arm und reich so lächerlich groß geworden ist“.
Die Polizei schiebt die Occupy-Everything weg von Times Square. Als der Platz wieder komplett in den Händen der üblichen SamstagsabendbesucherInnen ist, liegt ein ein Schild am Boden. Aufschrift: „Oh Sh*t. We the people are here.“
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