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Obszönität ist Stärke

Praktikable und weniger praktikable Modelle von Leben und Sterben: Ein Zwischenbericht vom Festival Theater der Welt, das mit der Aufführung „Apocalipse 1,11“ in einem Gefängnis begann

von CHRISTIANE KÜHL

„Hier gab es nie eine Revolte“, informiert die beige-braun uniformierte Dame an der Eingangsschleuse der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf. „Es gibt auch keinen Grund dazu“, ergänzt ihr Kollege bestimmt. Die umstehenden Besucher grinsen. Es ist dieses mild amüsierte Premierenpublikumsgrinsen, das noch nie ein Gefängnis von innen gesehen hat, aber seine Hoffnung auf eine kleine Revolte, wo auch immer auf dieser Welt, einfach nicht fahren lässt. Western West Germany 2002.

Mit der Aufführung „Apocalipse 1,11“ des brasilianischen Teatro da Vertigem begann am Wochenende das Theater der Welt. Dass das größte deutsche Theaterfestival in einem Gefängnis eröffnet wurde, soll als Zeichen begriffen werden; das Team um den künstlerischen Leiter Matthias Lilienthal will „einen neuen Begriff des Sozialen“ zum Thema machen. Die Wahl des Spielorts weckte in diesem Zusammenhang erst einmal Skepsis. Dokumentiert er doch weniger die Verhältnisse, als dass er eine falsche Authentizität suggeriert – schließlich sind an der Produktion aus São Paulo weder Häftlinge beteiligt noch als Zuschauer anwesend. Die Ausdehnung der Eventkultur auf den Knast als Location ist kaum als politischer Akt zu begreifen. Und doch lag in der Obszönität des Geschehens seine Stärke.

„Apocalipse 1,11“ erzählt den Weltuntergang als dreistündiges Stationendrama. Jesus wird bereits in der ersten Szene als toter Mann unterm Bett hervorgezerrt, womit klar ist, dass hier keine Hilfe mehr zu erwarten ist. João, verzweifelt nach Neu Jerusalem suchend, wird von den Engeln auf den Weg gebracht: eine anständige Ration Koks, und schon sieht er Babylon mit der Bestie tanzen. Das Theaterpublikum folgt den Akteuren quer durch schier endlose Korridore bis zur Kapelle, wo der Tag des Jüngsten Gerichts in einer einzigen Metzelei endet.

Vorher aber gelingt es den Brasilianern mit bisweilen schwer erträglichem symbolisch-expressivem Spiel, dann aber wieder mit erstaunlichem Selbstzynismus und künstlerischer Souveränität, die JVA Ossendorf in ein Bordell zu verwandeln. Spastiker stammeln die brasilianische Verfassung, afro-brasilianische Sambatänzer müssen ihre großen Schwänze vorzeigen, es gibt Karneval, Travestie, Live-Penetration, gestellte Heiligenbilder und einen Krach, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass er nicht im ganzen Gebäude zu hören ist. Aber keiner trommelt zurück.

Die Zahl im Titel des Stücks verweist auf 111 Gefangene, die 1992 bei einer Gefängnisrevolte in Carandiru getötet wurden, und auf Vers 1,11 der Offenbarung Johannes: „Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden.“ Es ist die Aufforderung, Chronist zu werden und seine Betrachtungen der Welt zu kommunizieren. Wäre ein schönes Motto auch für die documenta 11 gewesen.

Anders als in Fotografie und Film ist „echte“ Dokumentation im Theater nicht möglich. Die Grundvereinbarung des Mediums besteht darin, dass auf der einen Seite zugeschaut und der anderen gespielt wird. Was nicht bedeutet, dass man auf der Bühne nur Fake sieht; „echt“ jedoch ist nicht das Gespielte, sondern das Spiel. Diese Freiheit theatralischer Repräsentation nutzten zwei überzeugende argentinische Festivalproduktionen. El Periférico de Objetos aus Buenos Aires hat mit „Apócrifo 1: El Suicidio“ ein Stück über Selbstmord entwickelt, das nicht den Suizid, sondern Fragmente des Diskurses darüber auf die Bühne bringt.

„Das ist die Fotosammlung“, sagt eine Stimme zu Anfang nüchtern, und genauso nüchtern zeigt eine Leinwand Stills von Selbstmördern. Seit dem ökononischen Kollaps ist die Selbstmordrate in Argentinien erschreckend gestiegen, erklärt Regisseur Daniel Veronese. Auf seiner Bühne wird mit dem Thema erstaunlich humorvoll umgegangen: Man erfährt, dass auch treue Pferde, Vögel und Wale sich umbringen, und hört peinliche Geschichten über misslungene Versuche. Begleitet von einem DJ sowie einer ausgestopften Kuh im Bühnenhintergrund, werden praktikable und weniger praktikable Modelle von Leben und Sterben erzählt.

Auch „Torero Portero“ geht von einer konkreten sozialen Situation aus. Der in Frankfurt am Main lebende Regisseur Stefan Kaegi, bekannt für seine konzeptuellen Inszenierungen mit Laien, hat im argentinischen Córdoba eine Inszenierung mit drei arbeitslosen Pförtnern erarbeitet. „Arbeiter werden bald im Museum in Vitrinen stehen. Damit man noch weiß, was ein argentinischer Arbeiter ist“, erklärt einer von ihnen lakonisch. Vorerst jedoch sitzt das deutsche Theaterpublikum in einer Vitrine – genauer in der Galerie Borgmann-Nathusius, mit Blick auf die breite Fensterfront. Dahinter fahren Busse, leuchten Reklamen, halten türkische Sieger Fahnen aus ihren Autos – und trinken drei Pförtner auf einer Verkehrsinsel Mate. Über Mikrofon werden ihre Erinnerungen an Mietshäuser in die Galerie übertragen, wo sie mit einem Soundtrack und kurzen Videos ihrer ehemaligen Arbeitsstätten gemixt werden. Ein wunderbares Vexierspiel, das Passanten staunen lässt; weniger über die Männer mit den großen Schlüsselbunden als über das exotische Publikum.

160 Vorstellungen zeigt das Festival in zehn Tagen in vier benachbarten Städten. Am ersten Wochenende liefen mehr Inszenierungen, als eine Person gucken konnte; wer nur zwei oder drei am Tag sah, begann unwillkürlich, das Disparate zu verbinden. Der tote brasilianische Jesus saß da plötzlich neben dem argentinischen Himmelspförtner Petrus, während die chinesische Kommunistin der Peking Opera Company hoffnungsfroh verkündete, dass der Tod für die Partei einer zweiten Geburt entspräche. Biografie, Macht und Ohnmacht war dominierendes Thema der internationalen Produktionen. Auch wenn sie einzeln nicht als Dokumentationen sozialer Missstände missverstanden werden dürfen, dokumentiert ihr Nebeneinander sehr wohl den aktuellen Stand künstlerischer Repräsentation.

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