Obdachlosigkeit: Die Kunst, im Reichtum zu leben
Die Künstlerin Miriam Kilali gestaltet ein Obdachlosenheim der Diakonie zum schönsten Sozialhotel für Wohnungslose um. "Reichtum 2" nennt sie das Projekt.
Das Schönste an Schöneweide ist eigentlich der Name. Äußerlich betrachtet, so vom Bahnhof kommend. Auf den ersten Blick bestechen ein klotziger Einkaufsbunker, eine vielspurige Straße mit rasenden Autos und ein "Turbo"-Sonnenstudio. Es markiert den Anfang einer fast ästhetisch hässlichen Häuserzeile in dem Köpenicker Stadtteil.
Eine knallgelbe Fassade sticht heraus. Sie gehört zum "Haus Schöneweide", wie an der Eingangstür geschrieben steht. Das assoziiert Besonderes und das zu Recht. Hier wird offiziell Reichtum versprochen oder das schönste Obdachlosenheim der Welt. Das klingt nach dem gut abgehangenen "Arm, aber sexy"-Slogan von Klaus Wowereit. Tatsächlich aber handelt es sich um ein ernst gemeintes Kunstprojekt.
Das Bindeglied zwischen Kunst und Realität im "Haus Schöneweide" ist das Interieur. Der Eingangsflur, bis vor kurzem blau gekachelt wie eine Fleischerei, ist frisch gestrichen. Helle Strukturtapeten sollen noch folgen. Terracotta-Bodenfliesen im venezianischen Stil sorgen für einen Hauch südländischen Flairs. Wer von dort aus den Aufenthaltsraum der Bewohner betritt, tut das auf edlem Parkett. Die neue Einrichtung in der Gemeinschaftsküche nebenan strahlt eher nüchternen Schick aus. Die Flurtreppe mit gülden gestrichenen Streben führt in die oberen Etagen zu den Unterkünften, aus denen nach der Renovierung wohnliche Zimmer geworden sind. Die farbigen Strukturtapeten an den Wänden sind mit Goldbordüren verziert, auf den Laminatböden stehen neue Möbel, und an den Decken hängen Kronleuchter. Keine pompösen, sondern schlichte.
Ausgedacht hat sich all das Miriam Kilali, eine Konzeptkünstlerin mit breit gefächerten Ausdrucksformen. Sie malt, sie fotografiert. Sie hat auch den kleinen Film "Global Reality" gedreht. In dieser spielerischen Betrachtung der Welt zeigt Kilali, wie sich das Kleine und das große Ganze gegenseitig beeinflussen. Die 42-Jährige macht nicht den Eindruck, im anstrengenden Wettlauf der Kunstwelt mit skurrilen Ideen punkten zu wollen. Mit ihrem Reichtum-Projekt, sagt sie, will sie weder um schnelle Aufmerksamkeit buhlen noch polarisieren. "Ich nehme das allerdings in Kauf, weil es sich aus der Sache selbst ergibt."
Die Künstlerin gestaltet aus einem Asyl für (Ex-)Alkoholiker das schönste "Sozialhotel für Wohnungslose". Dafür muss sie 130.000 Euro auftreiben - aus Spenden. Weil das in Zeiten schneller Hartz-IV-Karrieren vielen nicht auf Anhieb in den Kopf gehen dürfte, hat die Sache durchaus Provokationspotenzial.
"Ist schon richtig, heute muss man jeden Cent dreimal umdrehen", steht auf dem Schreiben, mit dem Miriam Kilali um Spenden wirbt. Ihr Kunstprojekt wird unterstützt vom Diakonischem Werk und der Gesellschaft zur Betreuung Wohnungsloser und sozial Schwacher Gebewo, die das Haus betreiben. Gerade ihnen muss man nicht erzählen, dass heute immer mehr Leuten das Geld an allen Ecken und Enden fehlt.
Deshalb hört es nicht nur Miriam Kilali ungern, wenn als erste Reaktion auf ihr Projekt die Geldfrage kommt. Doch kann das wundern in einer extrem monetär geprägten Gesellschaft, in der "deutsche Zustände" herrschen? Die gleichnamige sozialwissenschaftliche Studie stellte kürzlich bei der Hälfte der befragten Bundesbürger eine abwertende Einstellung gegenüber den Almosenempfängern in der Leistungsgesellschaft fest. Über ein Drittel der Deutschen finden, auf die "Versager" werde zu viel Rücksicht genommen.
Miriam Kilali, die mit 17 aus ihrer Heimatstadt nach Berlin zog und nach einer Schneiderinnenausbildung Kunst studierte, hat ein Herz für die "Versager". Insbesondere seit sie ehrenamtlich in einer Beratungsstelle in Kreuzberg arbeitete. "Ich war sehr berührt von der großen Hoffnungslosigkeit, die die Menschen ausstrahlten, und dachte, dass man dem lähmenden Gefühl von Armut irgendwas entgegensetzen müsse." Dies mit künstlerischen Mitteln zu tun, lag da nahe: "Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass es vor allem schöne Orte sind, die nach einer strapaziösen Zeit Kraft geben. Wer auf der Straße lebt, braucht das Doppelte."
So entstand die Idee zu ihrem Projekt, mit dem sie sinnbildlich den Reichtum des Lebens sichtbar machen möchte. "Ich will im übertragenen Sinne eine Einladung aussprechen, dass sich jeder ein Stück von diesem Reichtum nehmen darf. Gerade Menschen, die in ihrem Leben scheinbar alles verloren haben, die durch Schicksalsschläge aus der Bahn geworfen wurden und von der Gesellschaft oft liederlich behandelt und ausgegrenzt werden." Miriam Kilali will ihnen neuen Lebensmut machen, ein Gefühl von Würde und Respekt vermitteln. Warum nicht mithilfe von Strukturtapeten in ihrem Zuhause?
In Moskau, wo sie vier Jahre mit ihrem Mann lebte, hat sie es zuerst probiert. "Reichtum 1 - Hotel Marfino" heißt das Obdachlosenheim, das sie in der russischen Hauptstadt in eineinhalb Jahren edel umgestaltete. Diese Vorläuferprojekt nahm das Diakonische Werk zum Anlass, Kilali eine Nachahmung in Schöneweide anzubieten. Bei den Russen ging es nach Anlaufschwierigkeiten vor allem dank Firmenspenden voran, parallel fanden auch die Heimbewohner Gefallen an der Radikalverschönerung. "Bei denen kam eine Lebensenergie und Freude auf, als wären sie regelrecht aufgewacht", erzählt Kilali. Zugleich hätten sie das Vorurteil wiederlegt, verwahrloste Leute würden ein schickes Ambiente nicht zu schätzen wissen und irgendwann verfallen lassen. "Aber warum sollten die sich ihren eigenen Lebensraum kaputt machen?", fragt Kilali.
Edeltraut Hörnschemeyer stimmt nickend zu. "Einige Leute kommen mit sämtlichen Vorurteile über Trinker, wenn sie von unserem Projekt hören", sagt die Leiterin des Heims in Schöneweide. "Die halten das für reine Verschwendung, da unsere Hausbewohner, die oft chronisch alkoholkrank sind und obdachlos waren, bereits am Rand der Gesellschaft leben." Aber eben deshalb bräuchten sie ja eine Lobby.
Wer in der Michael-Brückner-Straße 3 wohnt, hat Glück im Unglück gefunden. 21 Plätze stehen hier zur Verfügung, um eine langfristige Stabilisierung der psychisch und physisch oft schwer angeschlagenen Männer zu ermöglichen. Die Hälfte wohnt wohl bis zum Lebensabend hier, andere in selbständigen Außenwohngruppen, die mit betreut werden. Einige Bewohner suchen sich hin und wieder über die Jobbörse Arbeit, andere arbeiten irgendwo ehrenamtlich. Im Heim mithelfen, zum Beispiel bei Einkaufen, müssen alle.
Edeltraut Hörnschemeyer war sofort vom Projekt angetan, weil es die Chance bot, den Bewohnern neue Impuls zu vermitteln: "Es wird ihnen etwas Schönes gegeben, um Kraft daraus schöpfen zu können." Skeptischer waren anfangs die Heimbewohner. Miriam Kilali erläuterte mehrmals ihre Idee und versprach, dass jeder mitreden und mitmachen könne, ja solle.
Peter Sternberg ist mit der bisherigen Hausumgestaltung zufrieden. Bis zum Beginn der Umbauarbeiten im letzten Herbst standen in den Zimmern nur Möbel, die aus verschiedenen Lagern zusammengeklaubt waren. Jetzt ist Sternbergs Zimmer im dritten Stock Teil eines Kunstwerks. Vor den Fenstern hängen Vorhänge, auf dem hellen Laminatboden stehen ein neuer Stuhl und ein flacher Regaltisch mit Modellautos. "Ick war mal Lastwagenfahrer. Einen Nagel in die Wand hauen kann ick aber auch", sagt der 58-Jährige. Er hat beim Renovieren geholfen, Wände abgeschliffen, Möbel mit zusammengebaut, Tapeten geklebt.
Über seinem Bett hängt ein großes Foto von New Yorks Wolkenkratzerschluchten. "Das habe ich mir bei Frau Kilali ausgesucht." Jeder Zimmerbewohner durfte sich aus ihren Fotoserien ein Motiv wählen. Sternbergs Entscheidung für die amerikanische Megalopolis war leicht. "Die Stadt fasziniert mich." Neben dem Foto klebt ein Sportwagenposter. "Früher hatte ich mal ein eigenes Auto", erzählt Sternberg. Jetzt freut er sich über seine Oldtimersammlung im Zimmer. "Alles ist viel schöner als vorher."
"Ick bin jetzt reich", sinnierte er lässig, als er das erste Mal in seinem neuen Zimmer saß. Miriam Kilali musste lachen. Schritt für Schritt wird jedes Zimmer renoviert. Jeder Bewohner wird nach seinen Möglichkeiten und seiner Belastbarkeit einbezogen. Manche helfen einfach nur als dritte Hand.
Eigentlich sollte "Reichtum 2" längst fertig gestellt sein. Für die Renovierung eines 700-Quadratmeter-Hauses inklusive neuer Mobiliareinrichtung sind 130.000 Euro nicht viel Geld. Aber wenn sie für eine soziales Projekt gesammelt werden müssen, kann das dauern. Ikea stiftete eine größere Summe, auch Kirchen und Banken, etliche Einzelhändler gaben extreme Vergünstigungen beim Einkauf. Friedbert Pflüger, Fraktionschef der Berliner CDU, übernahm am Dienstag die Patenschaft für das Projekt. "Vielleicht werden wir im Spätsommer fertig sein", sagt Miriam Kilali.
Sie weiß, dass das Spendensammeln in Berlin besonders mühselig ist. Im Bezirk Treptow-Köpenick erlebt sie es ständig. "Gerade lokale Unternehmen werden von allen Seiten angesprochen. Die unterstützen dann oft lieber Jugendliche als Erwachsene, die man für ihr Abdriften womöglich noch selbst verantwortlich macht." Solche Einstellung spürt sie schnell, wenn sie es beim Klinkenputzen zumindest in die Chefvorzimmer geschafft hat. Seit über das "Haus Schöneweide" in den Medien berichtet wird, geben aber auch zunehmend Privatleute Geld, manche bis zu 1.500 Euro. "Die finden die Idee dahinter einfach gut", sagt Miriam Kilali. "Für mich ist das auch ein Aufruf an alle, die Welt zu verschönern. Was wir hier machen, kann man eigentlich überall hin übertragen, auf Spielplätze, auf Krankenhäuser."
Deshalb träumt Kilali auch davon, ihre Idee "in andere Städte und Länder zu streuen". Sie würde bei der Realisierung vor Ort mitarbeiten, wenn sie von einem Träger ein kleines Honorar bekommen würde. So wie es jetzt auch der Fall ist. Schließlich muss sie auch von irgendwas leben. Denn die Angst vor sozialem Abstieg kennt sie auch. "Das haben wohl viele Künstler."
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