Obdachlose in Ungarn: Statt Parkbank vor den Kadi
Erstmals wird ein Obdachloser von einem Gericht verwarnt. Ein Gesetz, das Wohnungslosigkeit kriminalisiert, hat Verfassungsrang.
Das Gesetz sieht vor, dass Menschen, die im öffentlichen Raum kampieren, dreimal verwarnt werden müssen, bevor sie zu kommunaler Arbeit eingeteilt oder, im Extremfall, zu einer Haftstrafe verurteilt werden können.
Die nationalkonservative Regierung von Premier Viktor Orbán argumentiert, es gebe ausreichend Unterkünfte für geschätzte 30.000 Wohnungslose in Ungarn. Laut Regierung stehen landesweit 19.000 Schlafplätze bereit.
Die regierungsfreundliche Tageszeitung Magyar Idők sekundierte in einem Kommentar, der die Anwesenheit von Obdachlosen als ein Sicherheits- und Gesundheitsrisiko darstellt. Die Lebensqualität im öffentlichen Raum werde durch Menschen, die in Unterführungen oder Parks schlafen oder betteln massiv beeinträchtigt, schreibt der Kolumnist Bence Apáti. Er wirft linken und liberalen „Gutmenschen“ vor, sie würden praktisch den Tod Obdachloser auf der Straße in Kauf nehmen.
Unmenschlich und unchristlich
Miklós Hargitai von der Tageszeitung Népszava, argumentiert es sei unmenschlich und unchristlich, wenn Personen das Schlafen unter freiem Himmel verboten werde. Bürgerrechtsorganisationen wie A Város Mindenkié (Die Stadt gehört allen) gehen von lediglich 11.000 Schlafplätzen aus. Deren mobile Teams kümmern sich vor allem in der kalten Jahreszeit um Obdachlose und bringen sie auch in Notunterkünfte.
Wie die taz vor einigen Jahren bei einer nächtlichen Tour dokumentieren konnte, weigern sich viele, diese Betten in großen Schlafsälen Anspruch zu nehmen. Sie seien zu eng und oft unhygienisch. Eine kalte Nacht im Park sei dem allemal vorzuziehen.
Das von der nationalistischen Bürgerunion Fidesz dominierte Parlament hatte ein ähnliches Gesetz schon 2010 beschlossen. Odachlosigkeit wurde mit Geldstrafen von maximal 165 Euro bedroht. Allein zwischen April und November 2012 kassierte der Staat umgerechnet 132.000 Euro. In 24 Fällen wurde Ersatzfreiheitsstrafe verhängt.
Im November 2012 hob der Verfassungsgerichtshof das Gesetz auf. Obdachlose würden keine Rechte Dritter verletzen. Im Übrigen treffe sie oft keine Schuld für ihre Notlage. Das Gesetz verletze die Menschenwürde und das Strafrecht sei kein angemessenes Mittel, um einen sozialen Missstand zu bekämpfen.
Inzwischen hat sich zwar nicht das Problem der Obdachlosigkeit in Ungarn verbessert, doch die Regierung verfügt seit den Wahlen im vergangenen April wieder über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die es ihr erlaubt, im Alleingang die Verfassung umzuschreiben. Damit der Verfassungsgerichtshof sich nicht wieder einmischen kann, wurde das Verbot der Obdachlosigkeit diesmal in die Verfassung geschrieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen