Obdachlose in Berlin: Im Ministerium stört man sich an Zelten
Gegenüber dem Bildungsministerium campen seit Jahren Obdachlose. Nun müssen sie weichen – es gab Beschwerden.
Die ältere Frau hat vor ihrem knallpinken Zelt einen kleinen Flohmarkt aufgebaut. Ein Roman von Sven Regener liegt neben dem Brasilien-Reiseführer, an einer gespannten Leine hängen Tücher. „Nehmen Sie ruhig was davon mit, den Preis bestimmen Sie selbst“, sagt sie, während sie ihr Hab und Gut nach und nach zusammenpackt. Sie heißt Elisabeth, ihren Nachnamen will sie nicht sagen. Mitte 50 dürfte sie sein. An das Zelt von Elisabeth reihen sich noch fünf andere Zelte. Dazwischen stehen Wasserbehälter für die Wäsche. Weiter hinten sitzen einige Männer in einer Runde zusammen.
„Tagsüber macht jeder, was er will“, erklärt Elisabeth. „Wenn es dunkel wird, kommen dann alle wieder hierher zurück.“ Alle, das sind insgesamt zwölf Obdachlose, die hier, schräg gegenüber des Hauptbahnhofes, auf der anderen Spreeseite, ihr Winterquartier aufgebaut haben. Vor den grauen Betonpfeilern des Uferweges erkennt man sie von Weitem als kleine bunte Punkte. Jetzt soll das Camp weg.
Nur noch bis zu diesem Donnerstag hat die Gruppe Zeit, ihre Zelte abzubauen. Am Montag kam die Ansage vom Ordnungsamt des Bezirks Mitte, die Fläche zu räumen. „Grundsätzlich ist das Zelten in Grünanlagen nicht erlaubt“, erklärte Bezirksstadtrat Carsten Spallek (CDU) auf Nachfrage; deshalb sei die Räumung angeordnet worden.
Doch es ist fraglich, ob das Ordnungsamt von sich aus tätig geworden wäre. Der taz liegen Informationen vor, wonach eine Beschwerde über die campierenden Frauen und Männer aus dem Haus des Bundesbildungsministeriums kam. Es liegt dem Camp direkt gegenüber.
Laut Stadtrat Spallek sind beim Ordnungsamt Mitte tatsächlich mehrere Beschwerden eingegangen. Es lägen Hinweise auf das Camp von AnwohnerInnen, TouristInnen und aus den umliegenden Büros vor. Dass das Bundesbildungsministerium den größten Teil dieser Büros ausmacht, kann jeder sehen. Trotzdem will Spallek sich da nicht festlegen. „Vor allem wurde das Ordnungsamt auf die schlechten hygienischen Verhältnisse hingewiesen, da es in der Nähe keine Toiletten gibt. Mit dem Hinweis, dass dort auch Kinder spielen, wurde das gemeldet“, berichtete Spallek von den eingegangen Meldungen.
Deswegen müssen Elisabeth und die anderen Obdachlosen jetzt zusammen packen. Innerhalb der letzten Jahre haben die derzeit zwölf Männer und Frauen immer wieder Schutz vor Wind und Wetter unter den Betonpfeilern am Flussuferweg gesucht. Meistens waren sie gar nicht zu sehen, da sie die Zelte bei Tagesanbruch abbauten, um niemanden zu stören. „Das Gepäck zum Übernachten kann man dann in Tagesstellen für Obdachlose einschließen, aber deren Schränke sind viel zu klein für die Zelte“, erklärte Elisabeth, die seit sechs Jahren auf der Straße lebt.
In Berlin gehe man inzwischen von mindestens 3.000 Obdachlosen aus, sagte die Caritasdirektorin Ulrike Kostka bereits im März der taz. Laut Expertenbeobachtungen steigen die Zahlen. „Wir hatten im Winter in der Kältehilfe so viele Betten wie nie zuvor, und die sind auch genutzt worden“, sagte am Mittwoch der Sprecher der Berliner Caritas, Thomas Gleißner.
„Mit der Räumung ist unser Winterquartier beendet, die Zelte bauen wir wahrscheinlich vor dem Herbst nicht mehr auf“, sagt Elisabeth. Sie macht sich nun auf die Suche nach einer neuen Übernachtungsmöglichkeit. Unterstützung bietet dabei der Verein für Straßensozialarbeit Gangway an: Er hilft den Betroffenen, mit den Konsequenzen der Beschwerden umzugehen.
Anmerkung: Der Text hatte in einer früheren Version eine andere Überschrift. Das Bundesbildungsministerium legt indes Wert darauf, dass das Ministerium sich nicht an der Anwesenheit von Obdachlosen stört. Die Überschrift und eine Stelle im Text wurden entsprechend geändert.
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