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Nur in der Diaspora wirklich zu Hause

Vom lebenslangen zum Teilzeit-Exil: Die irischen Literaten und die Geschichte der Emigration  ■ Von Declan Kiberd

Kein Mensch weiß jemals wirklich, wie das eigene Land ist, bis er es verlassen hat und Vergleiche anstellen kann. In diesem Sinne ist Exil in der Tat die Wiege nationaler Identität, denn kein Volk kann sich je aus sich selbst heraus definieren. Es waren Germanenstämme, die einen Begriff von „Frankreich“ entwickelten und dem Land seinen Namen gaben. In ähnlicher Weise trifft dies auch auf England zu, und die irischen Exilanten, die dort lebten, haben entscheidend zur Schaffung und Weiterentwicklung der Vorstellung von „Irland“ beigetragen. Als Oscar Wilde scherzhaft bemerkte, wir wollten andere nur kennenlernen, um herauszufinden, was genau sie von uns denken, haderte er vermutlich mit dem vertrackten Schicksal, ein irischer Exilant in England zu sein. Mit dem gleichen Problem haben sich Zehntausende irischer Emigranten in Australien, Nordamerika, Afrika und natürlich auch auf dem europäischen Kontinent herumgeschlagen.

Der Gang ins Exil mag – zumindest eine Zeit lang – notwendig sein, damit ein Ire sich seiner selbst als solcher gänzlich bewußt wird. Einige Schriftsteller haben Irland verlassen, um eine notwendige Distanz zu ihren frühesten Erfahrungen zu gewinnen, eine Distanz, die es ihnen erlaubt, diese Erfahrungen mit einer für die Kunst notwendigen Freiheit zu überdenken. Eine ganze Tradition modernen irischen Schreibens, von James Joyce bis Brian Moore, läßt sich dieser Kategorie zuordnen. Besonders in früheren Zeiten fühlten sich viele Schriftsteller eingeschränkt oder von den heimischen Bedingungen erdrückt. Ob nun die imperiale Herrschaft, die politische Zensur, der klerikale Antiintellektualismus oder der einfache Argwohn gegen den bohemehaften Lebensstil verantwortlich gemacht wurden, sie fühlten sich im Ausland freier, sie selbst werden zu können. Der Erzähler Frank O'Connor hat für sie gesprochen, als er scherzte: „Das Privatleben eines Iren beginnt in Holyhead.“ Holyhead ist das Hafenstädtchen in Großbritannien, in dem die irischen Emigranten ankommen.

Den unabhängigen Geistern schien das Exil eine der entscheidenden Voraussetzungen des Schreibens zu sein: Samuel Beckett erstaunte 1939 seine Mutter und seine Familie, als er sagte, er ziehe Frankreich im Krieg Irland im Frieden vor.

Statt Kolonien hat man das „geistige Irland“

Auch anderswo müssen sich die Schriftsteller in gewisser Weise von ihrem Heimatland entfremden, um sich ganz der Bohemia verschreiben zu können. Viele der großen Werke der Literatur, ob Dantes „Göttliche Komödie“ oder „Die Blechtrommel“ von Günter Grass, sind von Exilanten geschrieben worden, die durch einen Akt der Imagination der Eigenart des Ortes auf den Grund kommen wollten, den sie verlassen hatten.

Die Einmaligkeit der irischen Erfahrung besteht allerdings in der langen und intensiven Tradition des Emigrierens. Schreiben ist für die Iren stets eine Metapher für

Exil gewesen. Im sechsten Jahrhundert wurde Sankt Colmcille verurteilt, nie wieder heimatlichen Boden zu betreten. Dabei hatte die Auseinandersetzung harmlos begonnen: Er hatte ohne Erlaubnis ein heiliges Buch abgeschrieben. Die Geschichte seines Exils und seiner schließlichen heimlichen Rückkehr nach Irland wurde zu einem der großen Themen irischer Erzähltradition, das sich in praktisch jeder folgenden Generation wiederholen sollte.

Colmcille gilt als einer der ersten irischen Missionare, die andere europäische Länder bereisten. Er war einer der Prediger, die auf den Kontinent ausströmten und von Lindisfarne bis Bobbio christliche Klöster gründeten, was ihrem Heimatland die Bezeichnung „Insel der Heiligen und Gelehrten“ einbrachte. Colmcilles Beispiel folgten seither viele junge IrInnen und reisten in die weite Welt, um die christliche Lehre zu verbreiten, oder – wie in jüngerer Zeit – als Entwicklungshelfer in der Dritten Welt zu arbeiten.

Obwohl dieses Land nie versucht hat, sich eigene politische Kolonien zu schaffen, kann wohl gesagt werden, daß Iren versuchten, durch missionarische Anstrengungen ein „spirituelles Reich“ zu kreieren. Diese Bemühungen erreichten Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Schaffung von Schulen und Hospitälern in Afrika, Asien und Lateinamerika ihren Höhepunkt. Priester und Nonnen, die von ihrer Missionstätigkeit auf Urlaub zurückkehrten, stellten ihre eigenen Vergleiche zwischen der historischen Erfahrung ihres eigenen Volkes und der der erst später entstandenen Nationen an. Aus dieser Bewegung ist eine reiche Literatur hervorgegangen, deren Themen sich in zeitgenössischen Werken wiederfinden.

Roddy Doyles Bestseller „Paddy Clarke Ha Ha Ha“ enthält eine lustige Episode (die vielen irischen Kindern seiner Generation erzählt wurde) über den berühmten Pater Damien und seine Leprakolonie. Ein etwas sanfterer Umgang mit dem Missionsthema findet sich in dem erfolgreichen Theaterstück „Dancing at Lughnasa“ von Brian Friel, in dem gezeigt wird, wie ein aus Zentralafrika ins heimatliche Donegal zurückgekehrter Priester die Ernterituale beider Gemeinschaften im Geiste hoffnungslos durcheinanderbringt.

Viele irische Schriftsteller würden wohl die Behauptung in einem früheren Roman von Roddy Doyle, „The Commitments“, bejahen können, daß „die Iren die Nigger Europas sind“. Die irische Präsidentin Mary Robinson hat diesen Satz vor etwas mehr als einem Jahr bei einem Besuch des von einer Hungersnot geplagten Somalia elegant umgekehrt, als sie dem somalischen Volk in dessen großem Hunger ihre Solidarität bekundete und sagte, einige sähen in den Somalis „die Iren Afrikas“. Schwarze Schriftsteller haben seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ein großes Interesse an irischer Kultur gezeigt: Der Dichter Langston Hughes riet seinen Kollegen der Harlem Renaissance in den zwanziger Jahren, sich bei ihren Dialektexperimenten an denen des Dubliner Dramatikers Sean O'Casey zu orientieren, während ein Literaturnobelpreisträger jüngerer Zeit, Derek Walcott, in seinem ebenfalls das Exil reflektierenden Epos „Omeros“ den Analogien zwischen Irland und seiner karibischen Heimat nachgeht. Der Zufall wollte es, daß Walcott durch einen Geistlichen aus Irland, der an der katholischen Missionsschule von St. Lucia unterrichtete, erstmals mit den Werken von James Joyce in Berührung kam.

Die Literatur, die von Schriftstellern irischer Herkunft in anderen Ländern geschaffen wurde, ist längst ein wichtiger Bestandteil nationalen Erbes. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel gehören dazu nicht nur die nationalistischen Schriften eines John Boyle O'Reilly aus dem neunzehnten Jahrhundert, sondern auch die sehr viel kritischeren Beobachtungen der Schwierigkeiten einiger irisch- amerikanischen Familien aus der Feder des bekannten Dramatikers Eugene O'Neill in „A Long Day's Journey into the Night“. Überraschend viele illustre amerikanische SchriftstellerInnen haben irische Wurzeln: F. Scott Fitzgerald, Mary Gordon, Thomas Flanagan. Ich sage unter anderem deswegen überraschend, weil viele doch gewisse Vorbehalte dagegen hegen, überhaupt „irisch“ genannt zu werden. Dies mag auf die schlechten alten Zeiten des 19. Jahrhunderts zurückgehen, als in den Geschäften und Pensionen von Boston Schilder mit der Aufschrift „Anfragen von Iren nicht erwünscht“ hingen. Es hat auch damit zu tun, daß diese Immigrantengruppe nicht den Eindruck erwecken möchte, ihre dreckige Wäsche in aller Öffentlichkeit zu waschen. SchriftstellerInnen, wie etwa Mary Gordon, die versucht haben, das kulturelle Leben der irisch-amerikanischen Community detailliert und in aller Ehrlichkeit zu beschreiben, sahen sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, sie an ihre Feinde zu verraten. Eugene O'Neills Ambivalenz gegenüber seinem Vater spiegelt ziemlich genau die unsichere Natur dieses Erbes wider.

Es läßt sich behaupten, daß den meisten derjenigen, die Scott Fitzgeralds Bücher kauften, nicht bewußt war, wie wichtig ihm sein nationales Erbe war. Es ist an seinen Werken nicht unmittelbar ablesbar. Doch der Erfolg von „The Great Gatsby“ ist undenkbar ohne Rückverweis auf eine Geschichte wie „Confession“, die direkt mit der Kindheit des Autors in einer irisch-amerikanischen Familie aus St. Paul, Minnesota, zu tun hat. Ebenso scheinen der spröde Charme und die Komplexität einer Figur wie Doktor Dick Diver in „Tender is the Night“, Fitzgeralds anderem Meisterwerk, viel seinen gemischten Gefühlen von Stolz und Frustration zu schulden, die er gegenüber seiner Familientradition hegte.

Das Exil ist die Basis der irischen Kultur

Jedes größere Land kennt eine Kultur der irischen Diaspora. In Australien hat der Romanschriftsteller Tom Keneally die Verbindungen zwischen der Ideologie der Republikanischen Bewegung Australiens – der er vorsteht – und dem Beitrag der früheren Generationen irischer Emigranten untersucht, die in das unwirtliche „neue“ Land kamen. Keneallys Roman „Three Cheers for the Paraclete“ ist eine bewegende Schilderung des Lebens in einem katholischen Priesterseminar im Australien der fünfziger Jahre. Es könnte ohne große Mühe auf das Irland der gleichen Zeit übertragen werden. Sein weltweiter Ruhm als Autor des Holocaust-Romans „Schindlers Liste“ hat ihn zu einem der bedeutendsten Exponenten politischer Kunst unserer Tage gemacht. Sein jüngstes Projekt ist ein Drehbuch für einen Film über die große Hungersnot in Irland, ein traumatisches Ereignis, das große Auswanderungswellen nach Australien und in andere Teile der sogenannten Neuen Welt auslöste.

Eine der faszinierenderen jüngeren Entwicklungen in der Kunst ist die Vorstellung von einem „Teilzeit-Exil“. Die Geschwindigkeit des modernen Reisens und die hybride Natur zeitgenössischer Identitäten haben zur Folge, daß viele Kunstschaffende es nunmehr schaffen, in einem Jahr in zwei Ländern zu leben. Dichter wie Paul Muldoon, Seamus Heaney und Eavan Boland verbringen einen Teil ihrer Zeit auf einem US- amerikanischen Campus, den anderen Teil in Irland. Romanschriftsteller wie Joseph O'Connor und William Trevor habe einen Erzählstil perfektioniert, der sie zwischen Irland und einem anderen Land springen läßt. O'Connors „Desperados“ widmet sich bestimmten Analogien zwischen Irland und Zentralamerika, und die Handlung in Trevors „Felicias Reise“ ist sowohl im ländlichen Irland wie in England angesiedelt. Selbst in das Drama ist eine solche Hybridität eingegangen.

All diese Entwicklungen spiegeln eine umfassendere, allgemeinere Neudefinition des Irischseins wieder, nicht als Bewohner der sechsundzwanzig Grafschaften der Republik Irland noch der zweiunddreißig Grafschaften Gesamtirlands, sondern eher als diejenigen überall auf der Welt, die sich „zugehörig“ fühlen. In ihrer Antrittsrede anläßlich ihrer Wahl zur Präsidentin Irlands im Jahre 1990 wandte sich Mary Robinson an diese globale Gemeinschaft und zitierte ein Gedicht über die „Emigrant Irish“, in dem deren Erfahrungen als brauchbares Erbe für die Gegenwart dargestellt werden.

Erfolgreiche Lesereisen von SchriftstellerInnen durch EmigrantInnen-Communities haben zu einer klareren Vorstellung von einem „globalen Irisch-Sein“ und zur Befürwortung des Wahlrechts für Emigranten bei Senatswahlen geführt. Die Lektion der irischen Literatur besteht allerdings darin, daß sie kulturell ohnehin einbezogen waren. Wenn Schreiben in vielen Fällen eine Metapher für Exil war, dann war Exil in noch mehr Fällen die Grundbedingung irischer Kultur selbst.

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