: Null-Liter-Fahrzeuge
■ Seit 16 Jahren bauen Schüler im Holter Feld Liegeräder
Futuristisch aussehende Fahrzeuge stehen auf dem Flur im Schulzentrum Holter Feld: Liegeräder mit blitzenden Speichen parken neben tiefliegenden Dreirädern mit gepolsterten Sitzschalen. In der angrenzenden Werkstatt wird geschraubt, geölt und gesägt. Auf einer Tafel ist die Sitzposition auf einem Liegerad eingezeichnet. Bei den buntlackierten Rahmen, an denen gearbeitet wird, kann man allerdings erst erahnen, wie die Fahrzeuge einmal aussehen sollen.
Seit drei Jahren führt die Volkshochschule im Schulzentrum Holter Feld Liegerad-Baukurse durch. Kursleiter ist Joachim Franke, der im Holter Feld als Berufsschullehrer unterrichtet. Gerade haben zwei neue Kurse begonnen. Sie dauern ein Jahr, dann sind alle Teile für das Fahrzeug fertig. Zwar soll eigentlich am Kursende jeder Teilnehmer sein Liegerad fertig nach Hause fahren können. Trotzdem basteln und schrauben die Teilnehmer des letzten Kurses – ausnahmslos Männer – noch an ihren Rädern: „Nach den Sommerferien dauert es immer noch eine Weile, bis die Fahrzeuge wirklich fertig sind“, erklärt Franke, „innerhalb der regulären Kursdauer ist noch niemand fertig geworden.“ Die gut ausgestatteten Schulwerkstätten stehen aber weiterhin zur Vergfügung, bis das Rad endgültig fahrbar ist. Während die Teilnehmer aus dem letzten Semester Gepäckträger, Gabeln und Schutzbleche montieren, sehen die neuen Teilnehmer noch etwas verunsichert aus. „Ja, vor einem Jahr standen wir auch so da“, sinniert einer der Fahrradbastler. „Da habe ich mich auch gefragt, ob ich das wirklich mal schaffe, so ein Rad fertig zu bauen.“ Jetzt will er gleich noch ein dreirädriges Liegerad für seine Frau bauen.
Viele Kursteilnehmer sind vorher noch nie ein Liegerad gefahren. „Ich fand das Angebot so interessant“, meint einer, „aber ansonsten hatte ich noch nie mit Liegerädern zu tun.“ Wenn sein Rad fertig ist, will er es für Spazierfahrten nutzen. „So wie andere am Sonntag ihren Oldtimer aus der Garage holen, fahre ich mit dem Liegerad durch die Gegend.“ Der jüngste Kursteilnehmer ist Mitte Zwanzig, der älteste ist 78 Jahre alt. „Ich wollte mal ausprobieren, ob ich es noch schaffe, ein Rad zu bauen“, gesteht er. „Aber ich merke, daß mir die Jüngeren um einiges voraus sind.“ Wenn er es nicht schaffe, das Rad zu fahren, werde er es seinen Enkeln schenken. „Aber da ich zwei Enkel habe, müßte ich dann wohl noch eins bauen.“ Das wäre nicht ganz billig: Immerhin bezahlen die Teilnehmer neben der Kursgebühr nochmal 1.400 Mark an Materialkosten pro Rad. „Dafür bezahlt man im Laden 3.000 bis 4.000 Mark für ein Liegerad“, so Jochim Franke. Die weiteren Vorteile des Selberbauens liegen auf der Hand: Man bekommt nicht nur ein exakt auf den eigenen Körper zugeschnittenes Rad, sondern lernt auch gleich alles über den Fahrradbau, so daß anfallende Reparaturen kein Problem sein dürften.
Joachim Franke ist schon seit 1982 mit dem Bau von Liegeräder beschäftigt. Damals baute er in einer Schüler-Arbeitsgemeinschaft das erste Rad. „Als die Schule hier mit Arbeitsgemeinschaften anfing, wollten wir auch etwas anbieten, das mit den Metallberufen zu tun hat, für die wir ausbilden“, erklärt Franke. „Außerdem schaffen wir den Schülern so eine Nische, mit ihrer Ausbildung etwas anzufangen, was außerhalb der üblichen Berufe liegt. Vielleicht macht sich ja mal jemand mit dem Bau von Leichtfahrzeugen selbständig, wenn er sonst keinen Job bekommt.“ Nachdem die ersten Fahrzeuge fertig waren und 1994 sogar auf der Hafa ausgestellt wurden, stieg die Nachfrage nach den Liegerädern so sehr, daß Joachim Franke im Holter Feld das „Zentrum für Leichtfahrzeuge“, eine spezielle Werkstatt für Liegeräder, Fahrradanhänger und ähnliches, einrichtete. „Ohne diesen Raum wären die Kurse gar nicht machbar“, erklärt er, „schließlich müssen die Fahrzeuge auch irgendwo untergebracht werden, bis sie fertig sind.“ Er selber ist inzwischen leidenschaftlicher Liegerad-Fahrer geworden. „Liegeräder sind viel angenehmer zu fahren als normale Räder. Die Räder sind für den Rücken besser, man kriegt keine Sitzprobleme, sondern liegt bequem in einer Schale“, schwärmt er. Seine ganze Familie fahre inzwischen mit Liegerädern. Ein weiterer wichtiger Vorteil sei die Sicherheit: „Bei Unfällen mit einem normalen Rad ist der Kopf am meisten gefährdet. Bei Liegerädern befindet sich der Kopf weiter hinten und weiter unten. So kann man nicht mit dem Kopf über den Lenker schießen“, erklärt er. „Bei Liegerädern ist die Sicherheit also in das Fahrrad integriert, während man bei normalen Rädern als zusätzlichen Schutz einen Helm tragen muß.“ Mit seinen Schülern plant er, in Zukunft Liegefahrzeuge mit Karosserie zu bauen, die auch bei schlechtem Wetter eine Alternative zu Auto oder Bus sind. „Da wird immer vom 5- oder 4-Liter-Auto geredet, als wäre es so eine tolle Innovation. Dazu kann ich nur sagen: Hier haben wir schon das emissionsfreie Null-Liter-Fahrzeug!“
Die Teilnehmer seiner Volkshochschulkurse können sich aussuchen, ob sie ein klassisches langes Liegerad, einen Kurzlieger oder ein Dreirad bauen wollen. Während man bei einem langen Liegerad zwischen den Rädern sitzt, sich das Vorderrad also vor den Füßen befindet, ist bei einem Kurzlieger der Kurbelsatz vor dem Vorderrad. Bei den zweirädrigen Liegerädern sitzt man in der Regel noch etwas höher als bei den Dreirädern, weil sich der Sitz dort zwischen den Rädern befindet. Wenn sich die Teilnehmer für ein Modell entschieden haben, geht es gleich am ersten Kursabend mit dem Rahmenbauen los. Das Rad wird, angefangen bei den nackten Rohren, komplett selber gebaut. Vorkenntnisse braucht man für den Kurs nicht: „Wer einen Knopf annähen kann, kann auch ein Leichtfahrzeug bauen“, ist sich Franke sicher. Kontaktadresse: Zentrum für Leichtfahrzeuge, Schulzentrum Holter Feld, Tel. 36116789.
Karen Adamski
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