: Nostalgische Sammlungen
„Nächtelang habe ich nur noch mit Werbetafeln geredet“: Auf dem Festival Theater der Welt sucht man zwischen Einkaufszentren und Wohncontainern nach den Erinnerungen an ein anderes Leben
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Die Inhaber der umliegenden Läden kamen zuerst, hoffnungsfroh: Ah, ein neues Geschäft für Luxuswaren auf der Königstraße, seitlich der berühmten Kö in Düsseldorf. Aber statt Waren werden in dem Ladenlokal Videos und Diagramme geboten von dem, was „Eva“ und „Mario“ auf der Kö erleben. „Ich bettel für diese Tasche, bitte helfen Sie mir“ steht auf Evas Schild und eine „Prada“-Tasche für 247,50 Euro ist daneben gezeichnet. Die Passanten schütteln den Kopf, „das können wir uns doch auch nicht leisten“, die Sheriffs weisen sie weiter, „dieses Geschäft ist unser Kunde, hier dürfen Sie nicht stehen“.
„Luxus“ ist eine Performance von City-Mapping, einem speziell auf Düsseldorf zugeschnittenen Programm während des Theaters der Welt. „Nirgendwo sonst habe ich Bettler so demütig auf Knien rutschen sehen wie auf der Kö“, meint ein Besucher. Bedürfnisse, die über das Notwendige hinausgehen, werden Bettlern nicht zugestanden. „Luxus“ durchkreuzt diese Ordnung der Wünsche; „zynisch“ sei das Projekt, meinte die lokale Presse. Dabei wird nur auf andere Weise sichtbar, wovon der Mythos der Kö lebt: vom Überflüssigen und der Verschwendung.
Am Abend geht City-Mapping weiter mit „Ersatzverkehr“, einer Bustour durch das Weichbild der Stadt. Hier verirrt sich normalerweise keiner hin, der nicht muss. Bürohäuser und Hotelkomplexe sehen sich zum Verwechseln ähnlich, „City-West“ nennt sich das euphorisch; später gondeln wir an Einkaufszentren und abgestellten Wohncontainern vorbei. Dem Verlust des Urbanen, der unheimlichen Kontinuität zwischen Kriegszerstörung und autogerechter Stadtplanung, der Auslöschung der Vergangenheit und dem lebhaften Handel mit identitätsstiftenden Kopien gelten die Texte der Reiseführer. Angesichts der Austauschbarkeit draußen verheddern sich ihre Sätze, wiederholen, verknoten sich, bleiben schließlich stecken. Eine Mumie löst die erste Reiseleiterin ab, voller trauriger Geschichten: „Im Nachbargebäude hat sich jemand eingemauert.“ Der volle Mond und die untergehende Sonne scheinen durch die Fenster des Busses, „nächtelang habe ich nur noch mit Werbetafeln geredet“, erzählt eine zweite Hostess. Immer surrealer wird der Text, „Düsseldorf ist verschwunden“, meldet das Radio des Busfahrers. Aber dies ist keine von hysterischen Verlierern der Globalisierung erfundene Kulisse, sondern die ganz alltägliche Umgebung einer Stadt. Später wird „Ersatzverkehr“ durch Berlin und München fahren.
Wem die Geschichte entgleitet zwischen den Simulationen des öffentlichen Raums, der muss sich eine Vergangenheit erfinden. Davon handeln mehrere Projekte, die der Festivalleiter Matthias Lilienthal zu Theater der Welt eingeladen hat. Ein Spezialist für das Obsessive und Ominöse, für die ganz intime Anekdote und die Wahrhaftigkeit des Dokuments ist Hans-Peter Litscher, Konzeptkünstler aus der Schweiz. Er bittet uns auf ein Schiff auf dem Rhein: Unter Deck hat er eine Sammlung ausgebreitet und führt von Vitrine zu Vitrine, öffnet parfümierte Kästchen, legt alte Schallplatten auf. Doch seine Geschichte beginnt von Anfang an doppelbödig: Denn er erzählt über einen Berater Adenauers und privaten Gelehrten, der sein Leben der Erforschung des Lebens des Fürsten Potemkin gewidmet hat. Dass der Spaß an dieser Geschichte in ihren unmerklichen Übergängen zwischen Fake und Beleg besteht, weiß man bald. Man bewundert Litschers geschicktes Gleiten zwischen den Zeithorizonten wie die virtuosen Taschenspielertricks eines Zauberers. Aber für den lokalen Kontext, die Muster der Geschichtserzählung unter Adenauer, interessiert er sich letzten Endes wenig; er nutzt sie nur als Köder.
Sehr interessiert am einzelnen Leben ist dagegen Sarah Chase, „a story-telling dancer“ aus Toronto. Erinnerungen an ihren Vater, einen Geologen, waren der Ausgangspunkt. Von den Besuchern ihrer Performance bekam sie neue Geschichten erzählt; jede findet im Vergangenen Leitmotive, die eigene Gegenwart zu erklären. In den vier Festivalstädten arbeitet Chase jeweils in einer Wohnung und verbindet familiengeschichtliche Fundstücke, die ihr die Bewohner überlassen. Die Geschichte wird eingebettet in eine Bewegungsimprovisation: In Düsseldorf stand sie in der schmalen Fensternische einer Dachgeschosswohnung und ihre Hände glitten durch den Raum, als wollte sie mit den Vögeln am Abendhimmel konkurrieren. In Schwüngen und Spiralen zog sie ein immer dichter werdendes Knäuel von Linien um sich. Die Erzählung springt in der Zeit, aber die Bewegungen fließen in fast ungebrochener Kontinuität.
Witziger und weniger bemüht war die Gruppe „Forced Entertainment“, ein Schauspielkollektiv, das sich 1984 in Sheffield gegründet hat. Von Mitternacht bis in den Morgen hinein versuchten sie im Kölner Schauspielhaus sich und ihre Zuhörer wach zu halten mit ständigen Verschiebungen ihrer Erzählmotive. Jede Geschichte wurde nur so lange erzählt, bis ein anderer Spieler „Stopp“ rief und die Motive umbaute. Immer wieder schrubbern sie dabei an den Grenzen des Erzählbaren vorbei: Was zum Beispiel bleibt noch an Konfliktpotenzial der Märchen übrig, nachdem ein guter Herrscher beschlossen hat, die Inzestverbote aufzuheben? „Forced Entertainment“ breitet mit einem minimalistischen Aufwand aus, was seit Jahrhunderten den dramatischen Stoff hergab; aber kaum, dass man ahnt, wie der Stein rollen wird, bringen sie einen Knick ins Muster und beginnen von vorn.
Dramatische Höhepunkte hat ein solcher Text, der sich ständig neu schreibt, nicht mehr und jede teleologische Konstruktion wird hintertrieben. Aber die ständige Freiheit der Wahl hat ihren Preis; irgendwann fallen einem die Augen zu und hinterher erinnert man sich an nichts mehr. Dann ist das Theater wieder in der Erinnerungslosigkeit angekommen.
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