■ Normalzeit: Voll im Gründerwahn
Die Straße des 17. Juni ist eine Allee der Hand-, Sex- und Kopfarbeiter. Erstere machen sich dort gerne als Trödler selbständig, und die mittleren kann man gut und gerne als Begründerinnen des „Koberns“ bezeichnen. Nur bei den letzteren hängt es noch irgendwie. Ihretwegen gab es heuer in der Technischen Universität zum zweiten Mal die „Gründertage“. Mir kam diese „Experten“-Veranstaltung noch mehr als 1996 wie eine deprimierende Versammlung von Parasiten und Zwischenhändlern vor – auf der Suche nach den letzten verwertbaren Ideenentwicklern. All die Standfrauen in Chanel- Kostümen von H&M und gepflegten Anzugmänner mit flippigen Schlipsen (Soll heißen: „Seht her, ich bin wahnsinnig kreativ“) waren Festangestellte – von Banken, Versicherungen, Patentanwälten, Gründerzentren-Entwicklern und dubiosen Senatsprojekten. Um die 24 Standplätze voll zu kriegen, hatte man selbst die im Osten gerade ihre Filialen reduzierende Hamburgerkette „Mc Donald's“ zum Franchiser- Fangen eingeladen. Auf allen Monitoren gaben hochbezahlte Amis den abwesenden Ostakademikern gute Ratschläge – auf englisch.
Bei den „Grundlagen-Foren“ scheute man nicht einmal vor dem abgestandenen taz-Witz „Design bestimmt das Bewußtsein“ (als Marketing-Veranstaltung) zurück. Da wendete sich der zukünftige Selbständige bereits mit Grausen! Aber es kam noch dicker: Die meisten „Anbieter“ wollten ihm nämlich gar nicht in den Steigbügel helfen, sondern ans Portemonnaie gehen – und offerierten Möbel, Immobilien, Check-Point-Charly-Büros (mit und ohne Sekretariatsservice), TÜV-Gutachten, großkotzige Finanzierungen oder ISDN („Ihre Verbindung in die Unabhängigkeit“). Dazu hatten sich unselbständige Werbefuzzis tolle Sprüche ausgedacht: Die Berliner Landesbank – diesmal statt mit einer Minigolfanlage mit einem Clown angetreten – verteilte ein „Start Up 97“-Programm, und die Berliner Volksbank fragte jeden: „Sind sie fit für die Selbständigkeit? Machen Sie den Existenzgründer-Test am Computer.“
Die selber extrem um ihre Existenz ringende Berliner Service- Gesellschaft „Zukunft im Zentrum“ (ZiZ), aber auch die Potsdamer Technologie- und Innovationsagentur (TINA) versprachen uns – trotz alledem, „mit Kompetenz die Zukunft (zu) gestalten“. Und die altehrwürdige Volkshochschule (Vhs) machte sich vollkommen unironisch Mut – mit dem Slogan: „Selbständig in die Zukunft“.
Bei so viel zündender Zukunft sehnte man sich unwillkürlich nach der allerjüngsten Vergangenheit. Sogar eine „Zeitarbeitsfirma“ war vor Ort dabei: wahrscheinlich um die letzten „Part- Time-Loser“ für sich zu gewinnen. Das einzig Sympathische an den ganzen Gründertagen waren die herzzerreißenden Kittelschürzen der TU-Cafeteriafrauen, die so mürrisch aussahen, als wäre ihr Outsourcing bereits beschlossene Sache. Die Gespräche, die ich dort belauschte, drehten sich übrigens alle entweder um einen ISDN-Zweitanschluß oder um den neuen BMW. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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