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■ NormalzeitSeeräuber-Serienheld Bert

Das ist das Schöne am Osten: Man ist erst baff, und dann wundert man sich. So ging es mir auch mit der ursprünglichen Akkumulation, die mir penetrant als Piraterie aufscheint. Bereits 1945 wagte um Usedom herum eine Krabbenfischer-Tochter die erste Existenzgründung als Freibeuterin – folgt man Thomas Pynchon. 1959 wurden auf Rügen die ersten „Inselfestspiele“ veranstaltet – mit dem Seeräuber Störtebeker als „Seher der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, wie mir dies Defa- Cascadeur Hicks erklärte, der jetzt für die Ralswiker Störtebeker- Festspiele geradesteht: „Störtebeker war die Lichtgestalt, Goedeke der Haudegen Mielke, und der Kurt Hager hieß Magister Wigbold.“

Über seinen heutigen Störtebeker-Darsteller heißt es im Programmheft: „Norbert Braun fand im Tennisclub Bergen eine passende Unterkunft. Für die Fahrt zu den Vorstellungen steigt er in seinen 114 PS starken Sunny GTI“ – des Hauptsponsors Nissan. „Und sattelt dann auf 1 PS um: auf seinen geliebten Friesenhengst Eysbrand.“ Überall auf der Insel heißen die Loserkneipen „Zum Störti“ und ein nach den „Likedeelers“, den Gleichteilern, benannte Biersorte wirbt als „Bier der Gerechten“. An der Mecklenburgischen Seenplatte stieß ich 1997 das erste Mal auf Binnensee-Piraten: Die zwei Besitzer der Brunz-Yacht „Bounty“ hatten zu DDR-Zeiten bereits wegen „Arbeitsverweigerung“ im Knast gesessen, und der eine bekam „noch heute eine Gänsehaut“, wenn jemand von „ehrlicher Arbeit“ sprach. Sie lebten vom „Tschintschen“, bis hin zum Autohandel, und verdienten nicht selten an einem Tag, was eine ABM-Kraft dort im Monat einnahm.

Dann in der Lausitz: Wer Sorben hat, hat auch Likör, heißt es, wo jetzt – nach der Braunkohle – die „Lausitzer Seenplatte“ entsteht, d.h. kostbare Uferimmobilien an den gefluteten Tagebauen! In Hoyerswerda hatte der Baggerführer und Sänger Gundermann (mit Seilschaft) bereits 1995 „Arbeitsplatz“ auf „Piratenschatz“ gereimt. Nun waren dort sogenannte Schrottpiraten, als ökologische Sanierungsfirmen getarnt, auf dem ABM-Marsch durch die Institutionen – und ihre Frontschweine waren Russen – unterhalb des Billiglohngefüges. Aber jetzt kommts: Plötzlich veranstaltet die geborene Veranstalterin Renate im Rahmen ihres „Siemeck“-Zyklus „Sklavenmarkt“ eine „Erweiterte Tanzveranstaltung“ namens „Amnestie für Mecklenburg“ – mit dem Ex- „Herbst-in-Peking“-Programmierer Rex Joswig und dem Postpunk- poeten Papenfuß als „De Likedeelers“. Gesampelte Shanties und gestammeltes Störtebeker-Röcheln im Rhythmus. Inspiriert hatte dies nicht zuletzt die Mittelmeer-Piraten-Serie eines englischen Autors im „Sklavenaufstand“ – behauptete jedenfalls noch am selben Abend „Sklavenaufstand“-Sponsor Wolfram Kempe. Die Ex-Osloerin Tone Avenstroup, sonst professionell mit Papenfuß auf Performance-Parcours, verwies dagegen auf die Vorbildfunktion des norwegischen Seemanns und nennenswerten Kapitalismuskritikers Hans Jaeger. Dessen „Bibel der Anarchie“ 1998 – seit ihrer Neu-Vorstellung in der Jung-Volksbühne – für feinsinnigste Furore sorgt. So auch bei ihr und Papenfuß, der seitdem ununterbrochen „Rumbalotte“ vor sich her summe. Das Wort hatte sich ein Kaliningrader auf den Schwanzkern tätowiert. Bei Erektion wurde daraus: „Ruhm und Ehre der baltischen Schwarzbannerflotte“. Was soll ich dazu sagen? Es war ein äußerst gelungener „Sklavenaufstand“ im „Siemeck“. Der neben mir stehende Prenzlauer-Berg-Stadtrat für Asphaltkultur und PDS-Piraterie, Burghard Kleinert, murmelte ununterbrochen: „Höchst förderungswürdig!“ Und nicht nur das: Jetzt castet Frank Castorf komischerweise eine schamlose Shakespeare-Serie – unter dem Agitprop-Aspekt „Ursprüngliche Akkumulation“! Helmut Höge

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