■ Normalzeit: Die Dialektik von Genie und Häme
Wie viele taz-Frauen schon an Krebs gestorben sind, weiß ich nicht, aber es hat bereits eine höhere Merkwürdigkeit. Im Januar beerdigten wir auf dem Kreuzberger Südstern-Friedhof Regine Walther-Lehmann. Ende der achtziger Jahre war sie Medien-Redakteurin gewesen. Weil sie es nicht bedauern wollte, eine Disco-Rezension von Thomas Kapielski, in der das Wort „gaskammervoll“ vorkam, abgedruckt zu haben, mußte sie derzeit, zusammen mit Sabine Vogel, die taz verlassen. Regines Redaktions-Vorgängerin, die inzwischen ebenfalls an Krebs gestorbene Ulrike Kowalsky, organisierte daraufhin ein Bühnenprogramm im Kino „Eiszeit“ für sie. Einige der daran mitwirkenden Männer gründeten später die „Höhnende Wochenschau“, aus der etliche Berliner Bühnen-Kollektive hervorgegangen sind.
Von Thomas Kapielski, derzeit mit einer Kunst-Professur gesegnet, erschien soeben der zweite Merve-Band – zum Thema „Gottesbeweise“. Der Autor kommt darin erstmalig auch auf seinen taz- Skandal zu sprechen, der seltsamerweise Wiglaf Droste berühmt machte.
Zurück zu Regines Beerdigung: Weil speziell in der Single-Hochburg Berlin die Bestattungsrituale nicht mehr festliegen, und auch die diesbezüglichen Institute relativ locker geworden sind (Ilona Petersen wurde neulich z.B. von einer lesbischen Camp-Bestatterin „betreut“ und die Sargrede hielt jemand vom Stammtisch ihres Mannes) – ist dem „Anything Goes“ Tür und Tor geöffnet. Regines Mann Achim und Rosa, ihre studierende Tochter, entschieden sich für die ganze Spannbreite: Zuerst lasen sie einige Texte von Regine vor, dann trug ein Freund ein Gedicht von Hilde Domin vor und betete anschließend das Vaterunser, das „wer vermag“ mitbeten konnte. Zum Abschluß erklang eine Orgel – kein Walzer, wie bei Ilona – normale Trauermusik.
Da es meine erste Urnenbeerdigung war, bedrückte mich zunächst die Kleinheit von Regines Grab. Überhaupt war ich die ganze Zeit mit Formproblemen beschäftigt. Schließlich malte ich mir sogar eine ständige Kolumne über Berliner Beerdigungsriten aus – im Stil von Theaterrezensionen. Dazu trug bei, daß ich am Friedhofseingang eine Tafel mit dem täglichen Spielplan dieser Anlage entdeckt hatte. Regines Name stand auch drauf. Wie ich dann aus den Grabreden erfuhr, war sie 1972 Regieassistentin in der Neuen Volksbühne gewesen. Nach der taz arbeitete sie einige Zeit als Redakteurin bei „Radio 100“. Im Osten hatte sie es bis zur Jungpionierin gebracht, seit sie im Westen lebte, forschte sie immer wieder gern über DDR- Themen. 1994 unternahm sie eine umfangreiche Recherche über das Ost-Ampelmännchen. Danach war sie organisatorisch für einen Germanisten-Kongreß im Schloß Rheinsberg tätig. Auf dem Kongreß wurde Ulrike Kowalskys Freund , Wiglaf Droste, der 1989 ebenfalls aus Solidarität mit Sabine Vogel und Regine Walther-Lehmann die taz verlassen hatte, von den anwesenden Germanisten zum kontemporären Tucholsky gekürt. – Im Tagesspiegel berichtete jetzt gleichzeitig ein freiwillig aus der taz ausgeschiedener Redakteur über die Trara-Beerdigung des Berliner „Currywurst- Königs“. Ja, das Leben kann manchmal grausam sein! Helmut Höge
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