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Nordirland-Konflikt und GroßbritannienDer Grenzfall

Nordirland ist faktisch regierungslos. Schuld ist auch das Nordirland-Protokoll, das Großbritannien mit der EU verhandelt hat. Fragen und Antworten.

Dezente Grenze: Straßenmarkierungen in Nordirland und Irland Foto: Neil Hall/epa

Nordirland hat Anfang Mai ein neues Regionalparlament gewählt. Warum gibt es bis heute trotzdem keine Regierung?

Im Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998, das der britischen Provinz relativen Frieden beschert hat, ist festgelegt, dass die beiden stärksten Parteien auf protestantisch-unio­nistischer und katholisch-republikanischer Seite die Erste Ministerin und ihren gleichberechtigten Stellvertreter ernennen müssen. Das sind derzeit die Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Féin, der ehemalige politische Flügel der inzwischen aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA).

Tritt einer von beiden Mi­nis­te­r*in­nen zurück, ist der oder die andere automatisch ebenfalls ihren Job los. Die DUP hatte die Regierung bereits im Februar lahmgelegt, als ihr Erster Minister aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll zurücktrat. Ohne die DUP gibt es keine nordirische Regierung.

Was steht denn im Nordirland-Protokoll?

Das Protokoll ist Bestandteil des Brexit-Vertrags und wurde von der britischen Regierung und der Europäischen Union ausgehandelt. Es regelt, dass Nordirland, das als einziger Teil des Vereinigten Königreichs eine Landgrenze mit der EU hat, faktisch Teil des EU-Binnenmarkts bleibt und sich den EU-Zoll­regeln unterwerfen muss. Grund dafür ist die Furcht, dass der gewaltsame Konflikt durch eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland wiederaufleben würde.

So eine harte Grenze wurde durch das Protokoll zwar vermieden, stattdessen gibt es nun aber eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien, damit britische Waren – vor allem gekühlte Fleischprodukte – nicht unkontrolliert nach Nordirland und von dort in die EU gelangen können. Diese Regelung hatte zunächst einen „Würstchenkrieg“ ausgelöst, weil britische „bangers“ nicht mehr auf nord­irischen Frühstückstellern landen durften. Zumindest der Wurstzwist ist jedoch inzwischen beigelegt, sodass auch Nordiren wieder in den zweifelhaften Genuss britischer Würstchen kommen.

Warum lehnen Nordirlands Unionisten die Regelung ab?

Den Unionisten reichen die Würstchen nicht. Sie sehen in dem Protokoll wegen der Grenze in der Irischen See eine Spaltung des Vereinigten Königreichs. Premierminister Boris Johnson hat mit der Zustimmung zum Nordirland-Protokoll eine Regelung erlaubt, von der seine Vorgängerin Theresa May sagte, kein britischer Premier könne jemals so etwas absegnen.

Die DUP hat das Gefühl, von der britischen Regierung hereingelegt worden zu sein. Sie hatte in Nordirland als einzige Partei für den Brexit geworben – in der Hoffnung, dass sie dafür mit besonders engen Beziehungen zum Mutterland belohnt würde. Die Unionisten monieren nun, das Protokoll verstoße gegen die Unionsgesetze von 1800, mit dem sich die britische Regierung die Nachbarinsel einverleibt hatte. Deshalb werde man das Regionalparlament blockieren, bis das verhasste Protokoll vom Tisch ist.

Warum ist die Sache mit dem nordirischen Regionalparlament überhaupt so kompliziert?

Das Regionalparlament besteht aus 90 Mitgliedern, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Es wurde durch das Karfreitagsabkommen von 1998 geschaffen, das den dreißigjährigen Konflikt in Nordirland beenden sollte. Die nordirische Regierung ist seitdem eine Zwangskoalition, der alle Parteien angehören, die mindestens neun Sitze haben.

Es folgt damit dem Prinzip der Konkordanz, also der Absicht, möglichst viele Interessengruppen in die Politik mit einzubeziehen. Alle Abgeordneten müssen sich zudem als „Unionist“, „Nationalist“ oder „Anderer“ identifizieren. Die überkonfessionelle und liberale Alliance Party fällt zum Beispiel unter „Andere“. Sie kann sich vor jeder Abstimmung für unionistisch oder nationalistisch erklären – je nachdem, wo eine Mehrheit benötigt wird.

Warum ist das Thema Nordirland-Protokoll jetzt wieder brisant?

Die britische Regierung will noch in diesem Monat eine Gesetzesvorlage ins Unterhaus einbringen, die Teile des Nordirland-Protokolls aushebeln soll. Das wäre nach Artikel 16 des Brexit-Vertrags möglich: Es erlaubt jeder Seite, Teile des Vertrags aufzukündigen, wenn „schwere wirtschaftliche, gesellschaftliche oder umweltpolitische Schwierigkeiten“ drohen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Artikel gilt als letztes Mittel, wenn alle Verhandlungen gescheitert sind. Ob das Vorhaben allerdings so glatt gehen wird, ist zweifelhaft. Das Londoner Oberhaus könnte der Regierung einen Strich durch die Rechnung machen. Falls die Lords das Gesetz ablehnen, kann es erst nach einem Jahr erneut vorgelegt werden.

Wie reagiert Brüssel, wenn das Protokoll von der britischen Regierung einseitig ausgesetzt wird?

Die EU sagt, eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls stehe nicht zur Debatte. Man werde „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ auf die britischen Maßnahmen reagieren. Die EU bietet jedoch als Kompromiss an, die Kontrollen für Lebensmittel um 80 Prozent zu reduzieren und die Regeln für Kühlwaren zu lockern. Im Gegenzug verlangte man zusätzliche Sicherheiten, damit Waren aus Nordirland nicht in die Irische Republik gelangen können. Die Johnson-Regierung lehnt den Kompromissvorschlag ab.

Die EU-Mitgliedstaaten scheinen sich darauf geeinigt zu haben, jede britische Maßnahme mit einer entsprechenden Gegenmaßnahme zu kontern. Sollte London das Protokoll außer Kraft setzen und damit gegen ein internationales Abkommen verstoßen, droht sogar ein Handelskrieg.

Wie geht es weiter?

Wenn binnen sechs Monaten keine Einigung erzielt werden kann, müssten theoretisch Neuwahlen angesetzt werden – was an der Konstellation im nordirischen Parlament aber vermutlich nichts ändern würde. Wahrscheinlich einigt man sich, wie so oft, in letzter Minute auf eine Formulierung, die alle Seiten als Sieg für sich reklamieren können. Bis dahin kann allerdings noch viel passieren.

Der Juli ist in Nordirland zum Beispiel der Höhepunkt der Marschsaison mit zahlreichen Paraden, die von den radikalen Protestanten des Oranier-Ordens organisiert werden – bis zu 3.000 dieser Paraden gibt es im Jahr. Es ist zu befürchten, dass es dabei zu gewaltsamen Protesten gegen das Protokoll kommt.

Und wie steht es um eine irische Wiedervereinigung?

Bei den Wahlen Anfang Mai wurde Sinn Féin stärkste Kraft – und betonte, die Frage der Wiedervereinigung mit der Republik Irland wieder auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Laut des Belfaster Abkommens liegt ein solches Referendum aber im Ermessen des britischen Nordirland-Ministers Brandon Lewis. Glaubt er, dass eine Mehrheit für die Wiedervereinigung stimmen würde, kann er einen Volksentscheid anberaumen.

So weit ist es aber noch nicht, die Unionisten haben nach wie vor eine Mehrheit. Die ist zwar zersplittert, aber bei der Frage der Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich ist man sich einig. Die Unionisten fürchten vielmehr, dass durch das Nordirland-Protokoll eine gesamt­irische Wirtschaft entsteht, die ein erster Schritt in Richtung Wiedervereinigung sei. Dabei sind viele Bereiche wie Tourismus, der Wasser- und Energiesektor ohnehin bereits gesamtirisch organisiert.

Wichtig ist auch die Frage der Finanzierung, es ist unklar, ob sich die Republik Irland eine Wiedervereinigung überhaupt leisten könnte. London schickt derzeit jedes Jahr knapp 10 Milliarden Pfund nach Nord­irland. Die Dubliner Regierung müsste diesen Wegfall dann kompensieren, behaupten Skeptiker.

Zumindest für den größten Haushaltsposten, die Renten, würde London jedoch weiterhin aufkommen, da die irischen Rentner ins britische Rentensystem einbezahlt haben. Bei aller Unwägbarkeit steht zumindest eines fest: Die britische Regierung würde einer Wiedervereinigung keine Steine in den Weg legen. Denn so hätte sie die Probleme mit der ungeliebten Provinz an Dublin abgegeben.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Solange sich der Ian Paisley Gedaechtnis-Haufen daran erinnert, dass der ganze Rest des Landes ein Martin McGuiness Gedaechtnis-Haufen ist – warum nicht? Paisley und McGuiness waren First & Deputy First Minister und bekannt als die “chuckle brothers,” weil sie zusammen arbeiten konnten – ein erzradikaler Protestant und ein IRA-Kommandant, zehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, haben das *zusammen* gewuppt. Go figure.



    Aber es geht nicht ums Nordirland-Protokoll in der jetzigen Nordirland-Krise. Das NIP ist nur das Feigenblatt. In den letzten Wahlen hat die DUP ihre Mehrheit verloren, und das koennen die Ewiggestrigen nicht verknusen. Seit 1921 haben die Protestanten im katholischen Nordirland die Regierung gestellt; seit hundert Jahren glauben sie, das sei gottgegeben. Im Mai aber holte zum ersten Mal SinnFein mehr Sitze und hat damit Anspruch auf den “First Minister”-Posten. Insgesamt haben die Parteien, die sich fuer das NIP ausgesprochen haben, mehr Stimmen eingeholte als solche, die dagegen monieren. Und die DUP kann einfach nicht glauben, dass es mit der Vormachtstellung vorbei ist. Statt wie Erwachsene das Ergebnis anzuerkennen, wird jetzt mit Sand geworfen und sich bockig geweigert, den Waehlerwillen zu respektieren. Und als Ausrede muss das NIP herhalten.



    Der Witz an der Situation – der nordirischen Wirtschaft geht es besser als dem Rest des UK; das NIP ist ein Segen. (u.a. www.thelondonecono...est-of-uk-303057/) Aber die Wahrheit ist irrelevant wenn es um das Selbstverstaendnis einer sog Partei geht, die von der guten alten Zeit traeumt und die Realitaet nicht anerkennt. Da wird dann auch das Karfreitagsabkommen und knapp 25 Jahre Frieden auf der Insel auf’s Spiel gesetzt…

    • 0G
      06438 (Profil gelöscht)
      @wahlschottin:

      ""Der Witz an der Situation – der nordirischen Wirtschaft geht es besser als dem Rest des UK...........""



      ==



      Nordirland ist der Brexit-Gewinner im Vereinigten Königreich. Weil die britische Provinz nach wie vor de facto zur EU-Zollunion und dem Binnenmarkt gehört, haben Unternehmen einen deutlichen Vorteil gegenüber den britischen Wettbewerbern, wie der Industrieverband Manufacturing NI ausdrücklich betont.

      Manufacturing Nordirland setzt sich dementsprechend dafür ein, dass mit der EU vereinbarte Nordirland-Protokoll beizubehalten, das die britische Regierung entweder abschaffen oder eigenmständig ohne EU verändern will.

      Für Unternehmen ist das Protokoll der Garant für kontinuierlichen Zugang sowohl in die EU als auch nach Großbritannien. "Die nordirischen Betriebe wollen, dass das Protokoll funktioniert, sie erkennen die Möglichkeiten und wollen vorankommen“, erklärt



      Manufacturing NI

      Klartext:

      Der Witz - wie sie es beschreiben - ist der von der EU ausgehandelte Teil des Brexitvertrages namens NIP. Exporte in das EU-Land Republik Irland schossen in den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 63 Prozent in die Höhe, Importe legten um 46 Prozent zu.

      Wenn die EU in schwierigen Verhandlungen in 3 Jahren (von 2016 bis 2019) einen Vertrag aushandelt, der Nordirland Wohlstand verschafft, ist es sicherlich erlaubt, das auch mal klar zu sagen.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    "" Die Unionisten monieren nun, das Protokoll verstoße gegen die Unionsgesetze von 1800, mit dem sich die britische Regierung die Nachbarinsel einverleibt hatte.""

    ==

    Ehem - abgesehen davon, das imperiale gewaltsame Übernahmen von Teilen eines anderen Landes spätestens angesichts Putlers Versuche, die Ukraine zu übernehmen, nun völlig aus der Zeit gefallen sind und damit die Argumentation der DUP ins Absurde abgleitet, scheint ein anderer Aspekt wichtiger zu sein warum die DUP eine nordirische Regierung blockiert:

    Sinn Fein (27 Sitze), SDLP (8 Sitze) und die Allianz (17 Sitze) hätten mit 52 Sitzen zusammen 7 Stimmen mehr als die einfache Mehrheit. Alle oben genannten Parteien sind für das Nordirlandprotokoll. Das bedeutet:

    Die Unionisten können Ihre merkwürdige Argumentation nur ausspielen mit Ihrer Totalblockade des nordirischen Parlaments - was aber letzten Endes die Unionisten langfristig auch nicht retten wird.

    Sollte heute Abend Boris Johnson die Abstimmung unter den Tories nicht verlieren wird er wahrscheinlich das NIP torpedieren. Die EU warnt davor, weil dies einen Handelskrieg EU - UK auslösen wird. Je mehr Chaos, desto besser denkt Boris - er will die Brexit-Begeisterung wieder aufleben lassen um seinen Hintern zu retten.

    Klartext:



    Das wird ihm in NI nicht gelingen - weil NI hat gegen den Brexit gestimmt - und die Wahlen im Mai haben dem nordirischen Parlament eine Pro - EU & NIP Mehrheit beschert.

    Die politische Macht der DUP hängt an Boris Johnson. Stürzt BJ heute Abend verliert auch die DUP - sollte Boris Johnson trotz Mißtrauensvotum momentan noch an der Macht kleben bleiben - wird er etwas später stürzen - und damit die DUP endgültig ins Abseits treiben.

    Boris Johnsons Einschaltquoten und Wahlergebnisse sind mehr als miserabel. Er steckt in einem Tief fest aus dem noch nie ein Politiker an die Macht zurückgekehrt ist. Sein tiefer Sturz - wenn nicht heute Abend - ist lediglich eine Frage der Zeit.

  • Sehr gern gelesen, auch wenn es spät in der Nacht ist. Die Themen Brexit, Norirland werden mir deutlicher, weil im Artikel gut erklärt! Es bleibt tragisch. Hatte mir (zugegeben naiv) aber mit Hoffnung auf eine - hoffentlich - immer noch friedensstiftende Wirkung der EU, eine letztlich friedliche Zukunft für Nordirland gewünscht. Dann kam der Brexit. so vieles ist jetzt wieder ungewiss. Um "dran zu bleiben" und die Geschehnisse besser verstehen zu können, dafür hat Ralf Sotscheck mit seinem Artikel ein Stück Grundlage für einen Leser wie mich gelegt. Wie gesagt: Mit Interesse gelesen.

  • Würde Irland denn ernsthaft einen Ian Paisley Gedächtnis Haufen in seinem Staat haben wollen?



    Wenn man schon jetzt die Gewaltbereitschaft der Unionisten sieht - am Ende würde es wieder Bomben und Tote geben nur andersherum...

  • 9G
    93851 (Profil gelöscht)

    Da sieht man mal wieder, wie peinlich Johnson zu begreifen ist und warum er Donald Trump so ähnlich sieht, braucht gar keine Erklärung mehr, oder!?



    Die Iren müssen sich ja verar..... fühlen, aber man fragt sich ohnehin, wie Leute für diesen Brexit stimmen konnten ...



    Boris Johnson jedenfalls ist die Fehlbesetzung in England schlechthin!