Nora Luttmers Krimi „Hinterland“: Kommissarin mit Schlafattacken

Nora Luttmer hat einen gelungenen Nord-Krimi über eine narkoleptische Ermittlerin geschrieben, die lernen muss, mit ihrer Krankheit klar zu kommen.

Landschaft in Ochsenwerder mit Bauernhaus

Idylle unter dunklen Wolken: eine Landschaft in Ochsenwerder Foto: Axel Heimken/dpa

Kann sie nur ein Trick, ein wohlfeil retardierendes Element sein, diese Narkolepsie der Kommissarin? Dieses auch als „Schlafkrankeit“ bekannte Anfallsleiden, das Schlafattacken mit kurzfristigen Lähmungen der Gliedmaßen kombiniert, in diesem Fall der Hände?

Man könnte es meinen, wenn man die Personnage von Nora Luttmers neuem Krimi „Hinterland“ überfliegt, aber das griffe zu kurz. Denn erstens ist es immer interessant zu erfahren, welche Leiden und Behinderungen es geben kann und wie die Betroffenen damit leben, zweitens setzt die in Köln geborene, inzwischen in Hamburg lebende Autorin die Narkolepsie-Anfälle im ersten Band ihrer neuen „Bette Hansen“-Reihe sehr dosiert und niemals plakativ ein.

Die kürzlich ausgebrochene Krankheit ist untergründig ständig da – wie ein Wesen, das den Lebensrhythmus diktiert und Kräfte dosieren lehrt. Quasi zeitgleich mit Hansen gewöhnt sich der Leser daran zu kalkulieren, was sie noch erledigen kann in den drei Stunden vor dem nächsten Anfall. Die Krankheit wird so selbstverständlich, dass man sie – wie die Kommissarin – immer mal wieder vergisst und nicht begreift, warum sie plötzlich wegdämmert im Telefonat.

Dabei war das Wegdämmern mitten im Verhör der Grund, bei der Kripo Hamburg den Dienst zu quittieren und aufs Land zu ziehen. Und obwohl sie stets mehr planen und bedenken muss als andere, geriert sich die 53-Jährige nie als Hadernde, sondern stets als Frau auf der Suche nach einer neuen Normalität. Deshalb ist sie aus der Hamburger Innenstadt nach Ochsenwerder an die Dove Elbe gezogen, eigentlich zu idyllisch für Verbrechen.

Oder eben nicht. Denn kaum hat sie sich eingelebt, kriechen die Geister der Vergangenheit, sprich ihres letzten ungelösten Falls, hervor. Damals wurde auf einer Lichtung ein Paar erschossen, der Mann zusätzlich erstochen. Im Hochsitz hat der Täter ein Muschelkreuz-Emblem hinterlassen.

Nora Luttmer: Hinterland. Rowohlt Verlag 2021, 416 S., 10 Euro

Jetzt hat Bette Hansen einen Holzscheit mit demselben Muschelkreuz im Garten und bald auch Mails vom Täter, der sie beobachtet und alles über sie weiß. Er klingt wie ein Stalker, und Hansen reagiert wie ein Stalking-Opfer. Immer wieder reflektiert sie, ob ihre Panik berechtigt ist. Nur dass es hier um Mord geht, denn ihre inoffizielle Ermittlung zeigt, dass eins der vorigen Mordopfer auf dieselbe Art psychoterrorisiert wurde.

Da wird sie wohl die nächste Tote sein, wenn sie nicht schnell genug ermittelt. Auch ohne Profiler ist ihr klar, dass da jemand Macht ausüben und sie hetzen will. Warum? Weil sie – sagt der Mörder per Mail – den damaligen Muschelmord nicht aufklärte. Dass sie es aus Krankheitsgründen nicht tat, zählt nicht für jemanden, der in Kategorien von Schwarz und Weiß, Macht und Ohnmacht denkt, der Genugtuung sucht und es „Gerechtigkeit“ nennt.

Die Romankapitel sind wechselweise aus der Perspektive zweier Frauen geschrieben. Bette Hansen ist die eine von ihnen. Die andere ist eine gewisse Hannah, die mit einem Bücherbus durch Ochsenwerder fährt, ein unauffälliges Leben führt. Sie und ihr Bus stehen immer da. Man bemerkt sie schon gar nicht mehr. Wobei man angesichts der Hannah-Passagen irgendwann ungeduldig wird, weil man bis zur Hälfte des Buchs nicht erfährt, warum dieser blassen Figur so viel Aufmerksamkeit gilt. Und was sie überhaupt mit der Geschichte um Bette Hansen zu tun hat.

Angesiedelt ist das Ganze in einer so angenehmen Landschaft, dass man selbst Lust bekommt, mal wieder nach Ochsenwerder in die Vier- und Marschlande zu fahren. Auch für Lutt­mers Krimis ist das Ambiente neu: Ihre vorigen Romane – etwa „Schwarze Schiffe“ und „Dunkelkinder“ – waren harte Großstadt-Thriller, etliche davon in Vietnam verortet, wo die Autorin eine Zeit lang lebte.

Jetzt ist es also die gehandicapte Kommissarin Bette Hansen geworden. Eine versehrte Kommissarin, die ihr Leben meistert und – der Schluss deutet es an – wohl weiter ermitteln wird, ist weit lebensnäher und identifikations-tauglicher als ein „Halbgott Kommissar“.

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