Kommentar: Nolte von links
■ PDS-Vorstandsmitglied Benjamin verteidigt den Mauerbau
Michael Benjamin, Mitglied der „Kommunistischen Plattform“ und kürzlich vom PDS-Parteitag in den Vorstand gewählt, hält den Mauerbau 1961 für völkerrechtlich korrekt. Die Mauer sei eine „durch die Umstände erzwungene Maßnahme gewesen“. Welche Umstände? Offensichtlich die damalige Attraktivität des Westens für DDR-Bürger.
Die Geschichtssicht, die hinter dieser etwas nebeligen Formulierung durchschimmert, lautet: Das Unrecht, das die DDR beging, war nur eine Reaktion auf die westliche Aggression. Die Deformation des Realsozialismus war nicht hausgemacht, nicht Ergebnis des undemokratischen leninistischen Parteibegriffs und der gewaltsamen Monopolisierung der Macht, sondern eine notwendige, wenn auch bedauerliche Begleiterscheinung der Verteidigung des Sozialismus gegen den bösen Westen.
So klingt Ernst Nolte von links. So wie der deutschnationale Historiker 1986 im „Historikerstreit“ den Nationalsozialismus als Reaktion auf die Aggression des Bolschewismus definierte, so verschönert die Traditionskompanie der PDS die Verbrechen des Realsozialismus zu einem Reflex auf westliche Angriffe. Das ist nicht nur verlogen und legitimatorisch, sondern auch dumm. Denn im Grunde bestreitet Benjamin somit, daß der Realsozialismus als ein autonomes politisches System je existierte. Der Westen verfügte stets über die Macht, den Realsozialismus zu deformieren, so lautet implizit Benjamins These. Kann ein Urteil über die siebzigjährige Geschichte des Realsozialismus niederschmetternder ausfallen?
Rossana Rossanda, die alte Dame der italienischen Linken, hat im Zusammenhang mit der Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ gesagt, daß die unsicheren, trotzigen Reaktionen der Linken auf das „Schwarzbuch“ einen Mangel an Reflexion der Linken sichtbar gemacht hätten. In der Tat ist die Traditionslinke nach 1989 einfach zur Tagesordnung übergegangen. Anstatt eigenständig ein Resümee des Realsozialismus zu ziehen, hat man sich entweder in pragmatische Alltagspolitik gestürzt oder nostalgieverhangen den Untergang der Utopie beklagt. Michael Benjamins törichte Rechtfertigung der DDR zeigt, daß es mit einer eigenständigen Reflexion zum Realsozialismus auch zehn Jahre nach 1989 noch nicht allzuweit her ist. Stefan Reinecke
Bericht Seite 5
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