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■ Noch nie gab es in Deutschland so viele ScheidungenSchöne falsche Welt

Wechsel – man mag das Wort kaum noch hören. Bei all dem großen Gewechsele an der Staatsspitze geht der Blick für die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen verloren. Die vollziehen sich ohne Wahlkampf ganz von allein: Die Zahl der Scheidungen hat 1997 ein Rekordhoch erreicht, 7 Prozent Anstieg gegenüber 1996, in Ostdeutschland sind es sogar 16,6 Prozent mehr als zuvor.

Wer die Ehe schon immer für bürgerlichen Mumpitz gehalten hat, darf triumphieren, wer einst den „Tod der Familie“ prognostiziert hat, kann sich bestätigt fühlen – bloß damit ist die Genugtuung auch schon zu Ende. Denn die Rekordscheidungszahlen dokumentieren nicht allein die Brüchigkeit verkrusteter Institutionen und eherner Leitbilder. Das wäre nur allzu verkraftbar. Längst haben wir uns mit Singledasein und Patchworkbeziehungen gut eingerichtet. Aber hinter den Entscheidungen der Erwachsenen stecken die kleinen und großen Dramen der Kinder. Überproportional angestiegen ist vor allem die Zahl der Trennungen, nach denen gleich mehrere minderjährige Kinder bei einem Partner zurückbleiben.

Eine geschiedene Ehe ist auch für ein Kind besser als eine verkrachte. Nur hat die gesellschaftliche Wirklichkeit noch keine Auffangnetze geknüpft für die Realität, die sie geschaffen hat. Das emotionale Chaos nach einer Trennung kann keine Regierung ordnen. Aber sie kann vernünftige Rahmenbedingungen schaffen. Nach 16 Jahren Kohl orientieren sich Arbeitswelt, Erziehungsmodelle, Wohnungsbau und Finanzpolitik an einem Alltag von gestern. Allen gesellschaftlichen Umwälzungen zum Trotz wurde wacker das Hohelied auf Ehe und Familie gesungen – und es klang wie das Pfeifen im Walde. Im bösen Glauben, daß man mit Strafaktionen das Rad der Geschichte zurückdrehen könne, wurden Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften beharrlich zu Familien zweiter Ordnung gestempelt.

Steuersplitting, Wohnberechtigungsschein, Erbrecht – selbst bei Bahn und Freibad sind Priviligien nur mit Trauschein zu haben. Schöne falsche Welt. In kaum einem anderen Bereich hinkte die Politik der Wirklichkeit so hinterher. Für eine neue Regierung höchste Zeit, den alten Krempel rechtlich und ideologisch zu entmotten – und wenn Schwule und Lesben dann immer noch meinen, auch in den heiligen Stand der Ehe treten zu müssen, dann werden die Scheidungszahlen eben weiter steigen. Vera Gaserow

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