Noch mehr Sperren: Wettlauf der Sicherheitszonen
Die OSZE-Konferenz war nur das Vorgeplänkel. Der Ernstfall tritt ein, wenn die Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel nach Hamburg kommen.
Eine „Chance“ für die Hansestadt sei das OSZE-Treffen, beschwor Außenminister Frank-Walter Steinmeier die HamburgerInnen vor einigen Tagen in einem offenen Brief. Für die BewohnerInnen in St. Pauli, Sternschanze und umliegenden Vierteln bestand die Chance darin, sich an den Lärm von kreisenden Helikoptern und eine Allgegenwart von Polizeikräften zu gewöhnen, was weit über Demobegleitungen und Sicherung von Fußballspielen hinausgeht. Die Chance ist indes eine andere: eine neue Militarisierung deutscher Innenstädte vorzuführen. Denn das eigentliche „Event“ steht noch aus: der G20-Gipfel im Juli 2017. Die Entwicklung der G20-Sicherheitskonzepte in westlichen Staaten seit November 2008 verheißt hier nichts Gutes.
Als nach dem Beginn des Finanzcrashs die Staatschefs der 20 wirtschaftsstärksten Länder in Washington zur Krisenbewältigung zusammenkamen, blieb es zunächst ruhig. Schon ein halbes Jahr später, 2009 in London, brachten Tausende die Wut über den globalen Kapitalismus auf die Straße. Die Londoner Polizei, offensichtlich überfordert von Protesten, die sie so nicht erwartet hatte, überreagierte. Zuerst kesselte sie 5.000 DemonstrantInnen für sechseinhalb Stunden an der Bank of England ein, ein Passant starb in der Zeit. Als sie den Kordon um 19.30 Uhr auflöste, bildete sie einen weiteren dreistündigen Polizeikessel um das Climate Camp in Bishopsgate.
Der Todesfall und der harte Einsatz schlugen hohe Wellen und führten schließlich zu einem Untersuchungsbericht der Polizeiaufsicht für England und Wales, der HMIC (Her Majesty’s Inspectorate of the Constabulary). Darin stellte sie den Ordnungshütern in London ein schlechtes Zeugnis aus. Die „Operation Glencoe“ sei von einer falschen Prämisse ausgegangen, indem ein Hauptziel gewesen sei, „robust gegen jede Form von Protest oder Demonstration vorzugehen, die ungesetzlich ist“. Die richtige und einzige Prämisse hätte sein müssen, „friedlichen Protest zu ermöglichen“. Zugleich mahnte die HMIC an, dass bei derartigen Einsätzen alle Polizeikräfte deutlich sichtbare Personennummern tragen müssten.
Wer erwartet hatte, dass sich die Empfehlungen des Reports mäßigend auf künftige G20-Sicherheitskonzepte auswirken würden, wurde enttäuscht. Beim Gipfel im kanadischen Toronto 2010 entschied sich die Provinzregierung von Ontario vielmehr für eine härtere Gangart. Waren in London 10.000 Polizisten im Einsatz gewesen, mobilisierte man in Toronto 20.000. Um das Konferenzzentrum, in dem die Staatschefs tagten, wurde erstmals eine zweistufige Sicherheitszone gezogen. Damit nicht genug: Um ein altes Gesetz, den Public Works Protection Act, auf die neue Situation anwenden zu können, verabschiedete die Provinzregierung die „Ontario Regulation 233/10“. Er galt für den Zeitraum vom 21. bis zum 28. Juni 2010, innerhalb dessen der Gipfel stattfand. Pikant: Im Gesetzblatt von Ontario wurde die Verordnung erst fünf Tage nach dem Gipfel veröffentlicht.
Für viele DemonstrantInnen hatte dieses Manöver schwerwiegende Folgen. Denn die Verordnung gab der Polizei das Recht, jede Person, die sich nicht ausweisen konnte, innerhalb eines Fünf-Meter-Streifens entlang der äußeren Sicherheitszone festzunehmen. Doch niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass dieser Streifen existierte. So kam es zu rund 1.100 Verhaftungen während des Torontoer Gipfels, während es in London nur rund 120 gewesen waren. Der Ombudsman von Ontario, André Marin, stellte in seinem Untersuchungsbericht fünf Monate später denn auch unmissverständlich fest, die geheime Verordnung sei „rechtswidrig“ und „wahrscheinlich verfassungswidrig“. Das Sicherheitskonzept sei „der massivste Eingriff in die Grundrechte in der Geschichte Kanadas“ gewesen, sagte Marin.
2012 beförderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sicherheitsfantasien von Polizeikräften mit einem Urteil, in dem er befand, Polizeikessel seien mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Polizeikessel allerdings waren beim G20-Gipfel in Cannes ein Jahr zuvor gar nicht mehr nötig gewesen: Das Sicherheitskonzept erklärte einfach die gesamte Stadt an der Côte d’Azur zur Sperrzone. Demonstrationen wurden überhaupt nur im gut 30 Kilometer entfernten Nizza zugelassen – und auch dort nur in einem östlichen Stadtteil, nicht in der Innenstadt.
Den vorläufigen Höhepunkt stellt das Sicherheitskonzept des Gipfels in Brisbane 2014 dar. Ende 2013 beschloss die Regierung des australischen Bundesstaats Queensland den G20 Safety and Security Act. Auf seiner Grundlage wurden erneut Sicherheitszonen festgelegt: eine verbotene Zone um das Konferenzzentrum und die Hotels der Delegationen sowie eine „declared area“, die die gesamte Innenstadt von Brisbane umfasste. Zum Vergleich: Legt man diese Zone über das Hamburger Stadtgebiet, würde sie ungefähr vom Michel bis zum Tennisstadion Rotherbaum reichen, und in Ost-West-Ausdehnung von Altona Nord bis zum Rathaus. Innerhalb dieser Zone war es in Brisbane jedem untersagt, Gegenstände mit sich zu führen, die Lärm machen können, sowie Transparente, die größer als zwei Meter mal ein Meter waren. Ebenfalls verboten: „gefährliche Tiere“, Eier und Flugdrachen.
Interessant wird sein, ob der Hamburger Senat der Versuchung widerstehen wird, sich in diese unselige Entwicklungslinie zu stellen. Das verfassungswidrige Gefahrengebiet von 2014 und die Tatsache, dass der Schill-Protegé Hartmut Dudde den Einsatz rund um den G20-Gipfel leitet, sprechen nicht dafür.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet hat, der das Versammlungsrecht einschränken wird. Das Berliner Blog „Metronaut“ analysierte die Änderungen bereits im November. Zum einen werde der Straftatbestand eines Angriffs auf Polizeibeamte deutlich ausgeweitet. Zum anderen sollen Akte des zivilen Ungehorsams härter verfolgt werden: Eine Bewährung auf etwaige Freiheitsstrafen soll es nicht mehr geben. So können auch die breiten zivilen Proteste, die für den G20-Gipfel zu erwarten sind, kriminalisiert werden.
Hamburg, das „Tor zur Welt“, das auf seine Liberalität so stolz ist, wird die Militarisierung politischer Großereignisse aller Voraussicht nach nicht zurückdrehen – im Gegenteil ist zu befürchten, dass im Juli 2017 an der Elbe der G20-Geschichte ein neues unrühmliches Kapitel hinzugefügt wird.
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