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Niemand vergißt Singapur

■ Barbara Bollwahn und Severin Weiland sprachen mit dem Schriftsteller und Politiker Mario Vargas Llosa

taz: Wollen Sie die Erfahrungen und Eindrücke Ihres Berlin-Aufenthaltes literarisch verarbeiten?

Mario Vargas Llosa: Ich fühle mich sehr wohl in Berlin. Ich glaube, es ist eine Stadt, die auf jeden Schriftsteller sehr anregend wirkt, weil sie sich in völliger Umwandlung befindet und sich jeden Tag weiter verändert. Das verleiht dieser Stadt, die reich an Kultur ist, eine große Vitalität. Ich glaube, es ist einer der letzten Orte, wo die Schriftsteller sich noch für soziale und politische Probleme interessieren. Das ist in anderen Ländern schon aus der Mode gekommen. Aber auf mich wirkt das sehr stimulierend.

Warum verlieren die Schriftsteller ihr Interesse für politische Themen?

Die Politik wird immer pragmatischer, fast zu einer Technik. Die Utopie im weitesten Sinne des Wortes muß man am besten außerhalb der Politik suchen. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Ich glaube, es ist gut, daß es ein Bewußtsein dafür gibt, daß die Politik pragmatisch zu sein hat und sich auf dem Gebiet der Tatsachen und nicht der dunklen Träume bewegen muß. Andererseits ist es schlecht, daß die Politik zur Technik wird und jede Form von Idealismus, Werten und Phantasie verliert. Das kann zu einer enormen Verarmung und außerdem zu einer Demobilisierung der Anteilnahme an der Politik führen. Wenn sie in die Hände von Profis verbannt wird, kann das der Tod der Demokratie, des demokratischen Geistes sein.

Es gibt viele Intellektuelle, die meinen, mit dem Ende der Ära des realen Sozialismus seien auch alle Utopien gestorben.

Es ist gut, daß die Utopien im Rahmen der Politik verschwinden. Sie haben den Gesellschaften, die diese materialisieren wollten, nur Katastrophen gebracht — und das seit der klassischen Epoche, als es die Religionen waren, die Utopien umzusetzen versuchten. Ich glaube nicht, daß der Kollaps des Kommunismus — die letzte moderne Utopie — den Tod des Idealismus, der Phantasie und der Großzügigkeit bedeuten muß. Es gibt noch viele Schlachten zu schlagen. Der Triumph des demokratischen Prinzips bedeutet nicht, daß die Demokratie in jedem Land der Welt perfekt funktioniert. Die immerwährende Perfektionierung der Demokratie erfordert Ideen, Phantasie und eine sehr aktive Teilnahme. Die junge Generation, bei der gewöhnlich die Reserve der Großzügigkeit einer Gesellschaft liegt, sollte ihr Möglichstes tun, um zu arbeiten. Das ist schwer, weil es keine intellektuelle Motivation gibt. Es scheint, daß die Demokratie nicht Ansporn ist, so wie es die Utopien sind. Der Sozialismus zum Beispiel hat eine wunderbare Literatur hervorgebracht, die Demokratie dagegen weniger. Es müßte neu formuliert werden, was die literarische, künstlerische Phantasie mit der Politik verbindet.

Berlin war durch die Existenz der Mauer eine außergewöhnliche Stadt. Und heute?

Die Mauer ist noch da, in mentaler Form. Sie ist immer noch deutlich sichtbar, obwohl sie physisch nicht mehr da ist. Es gibt eine Leere, eine Grenze, ein Niemandsland — zwei Städte. Von West-Berlin nach Ost- Berlin zu gehen ist wie ein Gang von der Ersten in die Dritte Welt. Am meisten beeindruckt hat mich der „Sprung“ in den Ostteil der Stadt, wie man sich psychologisch an die anderen Verhältnisse anpassen muß. Hinzu kommt eine Häßlichkeit, die das tragische Schauspiel in Ost-Berlin beherrscht hat. Ein genauer Blick zeigt die Schrecken der bürokratischen Kollektivherrschaft, die riesige Verarmung in materieller, kultureller, sozialer und institutioneller Hinsicht. Das ist ein sehr beeindruckendes Schauspiel, und der Integrationsprozeß wird lange dauern. Die Möglichkeit, ein Land völlig umzugestalten, ist eine einzigartige, wunderbare Gelegenheit; eine große Herausforderung nicht nur für die Phantasie der Politiker, sondern auch der Intellektuellen, der Künstler und der ganz normalen Bürger. Es ist schade, daß die Begeisterung aus den Tagen des Mauerfalls schon nachgelassen hat.

Berlin steht in der deutschen Geschichte auch für Krieg und Diktatur. Löst das bei Ihnen Ängste aus?

Ich glaube, daß der Demokratisierungsprozeß in Deutschland sehr tief gewesen ist. Die antidemokratischen Kräfte in Deutschland sind fast folkloristisch. Jede Gesellschaft kann antidemokratisch werden. Wenn es aber in einem Land — wie in Deutschland — einen sehr intensiven Demokratisierungsprozeß gab, erscheint mir die Gefahr einer Wiederholung der Geschichte sehr unwahrscheinlich. Deutschland hat mit Europa einige Probleme gemein: die Angst vor dem Immigranten, vor dem Anderen, vor dem Verschwinden der Grenzen. Das Beste, was der Welt, was Europa überhaupt passieren konnte, ist der Wegfall der Grenzen, die Integration, die enorme Zusammenführung von Völkern dank des Handels. Nichts hat soviel Aufschwung, Fortschritt und Zivilisation gebracht wie das Verschwinden der Grenzen. Dies hat andererseits auch immer eine rückläufige Bewegung hin zum Gemeindebesitz, zu Herden und Stämmen provoziert. Es ist eine große Gefahr, gegen die man mit Ideen ankämpfen muß, vor allem auf dem Gebiet der Kultur. Diesen Kampf müssen sowohl die Deutschen als auch die Franzosen, Engländer oder Spanier aufnehmen. In Spanien sehe ich diese irrationalen Reaktionen gegen die Tunesier, Marokkaner, Hispano-Amerikaner. Die Zivilisation, die Demokratie, der Internationalismus sind Anomalien, die die Kultur geschaffen hat, indem sie mit einer langjährigen und sehr starken Tradition gebrochen hat — der Intoleranz, dem Irrationalismus, dem trivialen Glauben. Europa hat schon gigantische Schritte gemacht, um dem zu entkommen.

Halten Sie die derzeitige Politik in Europa für falsch, Grenzen für bestimmte Nationalitäten zu schließen?

Auf der einen Seite kann man keinem Land das Recht absprechen, die Immigration zu kontrollieren. Die Kapazitäten, Einwanderer aufzunehmen, sind überall begrenzt. Diese Politik dürfte aber nicht diskriminierend sein, sondern müßte alle gleich behandeln. Auf der anderen Seite sollte sie den reaktionären, nationalistischen Sektoren keine Argumente geben, die darin nur einen Vorwand sehen, um der Internationalisierung ein Ende zu setzen. Sie hat in den entwickelten Ländern mit zu einem außergewöhnlichen Wohlstand geführt und zum erstenmal jedem Land die Möglichkeit eröffnet, sich zu entwickeln, sei es auch noch so klein. Den Nationalisten dient die Immigration als Vorwand, um auch für Industrieprodukte Einfuhrbeschränkungen zu verhängen — im Namen des Protektionismus. Das ist ein gefährliches Phänomen, das sich in den USA zeigt, in allen Ländern, die von einer gewissen Rezession betroffen sind.

Wie sehen Sie das Phänomen des Nationalismus, das gerade in den östlichen Staaten Auftrieb erhält?

Mit großer Unruhe, mit großer Unruhe. Das ist wie die Wiederauferstehung von bösen Geistern, die einst begraben schienen. Der Nationalismus, der religiöse Fanatismus, die ethnischen Kämpfe — all das taucht wieder auf. Der Kommunismus war eine Art Gruft für den Austausch von Ideen, für die intellektuelle Kreativität auf dem Gebiet des Denkens. Der Kommunismus hinterließ durch sein Verschwinden eine große Leere, die vom Nationalismus ausgefüllt wurde. Eine demokratische Tradition ist im Osten nicht wiederauferstanden, weil sie nie vorhanden war. Und wo es Demokratien gab, waren sie nur vorübergehend. Das ist — ohne Zweifel — eine große Gefahr. Am meisten überraschen mich die religiösen traditionalistischen Bewegungen. Nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in Lateinamerika, wo die protestantischen Sekten mit einer sagenhaften Unnachgiebigkeit agieren und ebenso in Osteuropa. Diese Phänomene der Christenheit erinnern an die Inquisition, die religiösen Kriege des Mittelalters. Es scheint, als könne die Menschheit ohne Dogmatismus, ohne Fanatismus nicht leben. Wer glaubt, die Geschichte habe geendet, ist meiner Ansicht nach schrecklich naiv. Die Geschichte ist noch da, sie lebt und sie spuckt Schaum aus dem Mund.

Stellen Sie im Vergleich zu den letzten Jahren heute in Berlin ein geringeres Interesse für Lateinamerika fest?

Die Aufmerksamkeit wird derzeit überlagert von anderen, unmittelbareren Interessen und Sorgen. Die Ereignisse im Osten — das ist logisch — haben einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich habe den Eindruck, daß Lateinamerika nicht zu den politischen und kulturellen Prioritäten gehört. Trotzdem gibt es viele mit Lateinamerika zusammenhängende Aktivitäten. Zum Beispiel einen Kongreß lateinamerikanischer Literaturkritiker — ich war überrascht, daß es so viele gibt! —, bis hin zu einer Veranstaltung über mexikanische Literatur.

Befürchten Sie nicht, daß Europa den lateinamerikanischen Kontinent auch in wirtschaftlicher Hinsicht vergißt?

Sehen Sie, da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, die Länder werden ökonomisch vergessen, wenn sie es verdienen, ökonomisch vergessen zu werden. Niemand vergißt Singapur. Das ist das Land in Asien, das im letzten Jahr mehr ausländische Investitionen angezogen hat als andere Länder in diesem Raum. Warum? Aus rein wirtschaftlichen Gründen, weil es lohnt, dort zu investieren. In Chile besteht heute nicht das Problem, Investitionen anzuziehen — im Gegenteil, sie zurückzuhalten. Der Exzeß kann zur Inflation führen. Die Investitionen sind etwas sehr Kaltes, was nichts gemein hat mit Emotionen.

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Liegt die Lösung allein in den Händen dieser Länder?

Die Lösung hängt ausschließlich von Lateinamerika ab. Einige Länder haben sehr viele Mittel. Argentinien zum Beispiel ist gemessen an seinen Rohstoffen eines der reichsten Länder der Welt.

Aber Argentinien ist auch eines der Länder, das fast die gesamte staatliche Industrie an internationale Konzerne veräußert hat...

Nein, noch nicht alle. Aber hoffentlich, hoffentlich wird Argentinien das tun. Das Land hat in dieser Richtung sehr positive Schritte unternommen. Unglücklicherweise gibt es in Argentinien sehr viel Korruption, sehr viele Geschäfte, die im Umfeld der Privatisierungen getätigt werden. Natürlich provoziert das eine äußerst gerechtfertigte Empörung. Trotz alledem zeigt die argentinische Wirtschaft erste Anzeichen einer Besserung. Ich glaube, in Lateinamerika braucht man sich überhaupt keine Sorgen um die Investitionen zu machen. Das hängt einzig und allein von Lateinamerika selber ab.

Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes hat kürzlich gesagt, daß die lateinamerikanischen Immigranten in den USA die verspätete Rache für die Ausbeutung in der Dritten Welt seien. Würden sie ihm zustimmen?

Die Präsenz der ,hispánicos‘, wie sie in den USA genannt werden, ist ein sehr interessantes Phänomen. Sie waren es, die aus Miami — vor 35 Jahren eine Rentnerstadt — eine blühende und dynamische Region gemacht haben. Sie haben gezeigt, daß sie ökonomisch sehr effizient sein können. Das Interessanteste aber ist, daß sich diese Gemeinschaft nicht aufgelöst, ihre kulturellen Charakteristika bewahrt und auf sehr militante Art verteidigt hat. Das gleiche passiert, zwar nicht so effizient, aber sehr offenkundig, mit den hispanischen Gemeinschaften in Kalifornien und Texas. Im Gegensatz zu anderen Migrationsströmen entdecken diese ,hispánicos‘ ihre kulturelle Identität in den Vereinigten Staaten. Sie sind stolz auf ihre Sprache, ihre Traditionen. Gegen große Widerstände und Polemik gegenüber den Immigranten haben die mehr als zwanzig Millionen Spanischsprechenden in der nordamerikanischen Gesellschaft einen großen Einfluß. Sie sind die große Brücke, die nötig war, um die Kommunikation zwischen diesen beiden Hälften des Kontinents, die immer viele Reibungspunkte und Konflikte hatten, herzustellen.

Also keine Rache der Dritten Welt?

Die Gründe der Einwanderung sind rein wirtschaftlicher Natur, und keine Grenze kann die Einwanderer aufhalten. Die einzige Lösung ist die Entwicklung Lateinamerikas.

Haben Sie keine Bedenken, daß die großen Monopole so einflußreich werden, daß sie selbst die Kultur verändern könnten?

Wie alle, die an den freien Markt glauben, akzeptiere ich die Monopole nicht, denn sie sind unausweichlich eine Quelle der Ineffizienz und Korruption. Das Problem für mich als Peruaner und Lateinamerikaner ist nicht, wer letzten Endes der Eigentümer ist. Wichtig ist für uns Lateinamerikaner der Zugang zu einem Markt, auf dem wir zugleich zu einem guten Preis kaufen und verkaufen können. Das geht nur, wenn wir uns dem internationalen Wettbewerb stellen. Das nationalistische Kriterium ist heute größtenteils eine Fiktion, eine Lüge gewisser Politiker und Intellektueller, die den Zug verpaßt haben. Viele Eigentümer großer Unternehmen sind unbekannt, verstecken sich hinter falschen Gesichtern, Firmenanteile wechseln häufig und sehr schnell den Besitzer. Die Idee des Unternehmens ist nicht mehr identisch mit der der Nation.

Sie erwähnten Politiker und Intellektuelle, die den Zug verpaßt haben. Die lateinamerikanischen Intellektuellen, die wie der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez am sozialistischen Kuba festhalten, haben also in diesem Sinne den Zug verpaßt?

Es kann sein, daß sie ihn nie nehmen wollten, nicht wahr? Es gibt immer noch einige, die an die Existenzberechtigung des Sozialismus glauben. Das Interessanteste in Lateinamerika ist jedoch, daß es von Tag zu Tag weniger werden. Der größte Teil der Lateinamerikaner hofft, daß das Regime Fidel Castros verschwindet, daß auch auf Kuba eine Demokratisierung stattfindet. Nur im intellektuellen Umfeld stößt das große Scheitern des statischen und vor allem diktatorischen Systems — wie im Falle Kubas — auf Widerstand. Trotzdem: Die Verfechter des kubanischen Sozialismus werden zunehmend unruhiger. Selbst García Márquez hat Fidel Castro vor kurzem gebeten, die Todesstrafe nicht anzuwenden. (Im Januar dieses Jahres wurden auf Kuba drei Männer wegen Sabotage zum Tode verurteilt. Nach internationalen Protesten, u.a. von Márquez, wurden zwei Todesurteile in langjährige Haftstrafen umgewandelt, einer der Angeklagten erschossen — d. Red.)

Sollte vom sozialistischen System irgend etwas erhalten bleiben?

Nein, nur eine gewisse Ethik. Die moralische Überzeugung, daß es eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber dem Schwachen gibt. In jeder Gesellschaft gibt es Schwache, die unterstützt werden müssen. Das ist eine Ethik, Moral, die mit dem Sozialismus identifiziert wird und bewahrt werden sollte. Ansonsten würden die Schwachen von einer Gesellschaft hinweggefegt werden, in der ausschließlich die Marktgesetze gelten. Dem Kapitalismus, so effizient er auch ist, mangelt es an Ethik. Dem muß etwas entgegengesetzt werden, was durchaus aus der Idee des Sozialismus übernommen werden kann — eine Ethik, Moral.

Das kollektivistische Prinzip des Sozialismus aber ist hinfällig geworden. Der Sozialismus brachte die Gewißheit, daß das kollektivistische Prinzip nicht funktioniert. Die demokratische Gesellschaft und der Kapitalismus lassen viele Varianten zu und brauchen zudem eine konstante Regeneration, um nicht einzurosten.

Kann die Literatur bei der Suche nach einer neuen Moral helfen?

Die Literatur und die Kunst müssen zum Ausdruck bringen, daß die Welt schlecht konstruiert ist. Das ist eine ihrer vorrangigen Funktionen. Die Welt, in der wir leben, welche Gesellschaft auch immer — ob das Deutschland von Kohl oder das Peru von Fujimori —, könnte besser sein. Viele Dinge müssen korrigiert, reformiert werden. Die gute Literatur, das gute Gedicht zeigen das auf sehr lebendige Art und Weise. Die Literatur, die nur spielt, die nur experimentieren will — selbst wenn sie unterhaltsam ist —, übt für mich Verrat. Eine der großen Möglichkeiten der Literatur liegt darin, dem Menschen zu helfen.

Aus dem Spanischen von Barbara Bollwahn und Severin Weiland

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