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Niemand verdient es, zu ertrinken

Es ist eigentlich unfassbar: Mehr als 20.000 Menschen auf der Flucht sind seit 2014 im Mittelmeer ertrunken. Zehntausende sitzen an den Grenzen der EU und in griechischen Elendslagern fest. Die Seebrücke macht vor der Wahl Druck, um zumindest einigen eine Zukunft in Deutschland zu geben.

AktivistInnen zünden am ­Marienplatz Kerzen an für Menschen, die ertrunken und an der Festung Europa gescheitert sind. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Anna Hunger↓

Thomas Nuding hat das Schlauchboot mitgebracht. Aus dem Wasser gefischt irgendwo vor Malta. Wären die Menschen darin gerettet worden, würde dieses Boot das aufgesprühte Zeichen einer Seenotrettungs-Mission zieren, tut es aber nicht. Die Menschen seien wahrscheinlich von der lybischen Küstenwache nach Lybien zurückgebracht worden, „in Folterlager“, sagt Nuding, seit mehreren Jahren Kapitän diverser Seenotrettungsschiffe wie der Lifeline oder der Sea-Eye. „Dort wird das letzte Geld aus ihnen herausgepresst, die Menschen werden versklavt und verkauft.“ Dieses Boot, schwarz-grauer Gummi, war Hoffnung auf ein neues Leben.

Jetzt steht es auf dem Marienplatz in Stuttgart, auf dem die Seebrücke und andere Initiativen von der alten und neuen Landesregierung ein Landesaufnahmeprogramm forderten, die Schließung der Abschiebehaftanstalt in Pforzheim und ein klares Bekenntnis zur Seenotrettung.

Das Schlauchboot hat Nuding bergen lassen, um es der Welt zu zeigen. Er sei nie ein politischer Mensch gewesen, erzählt er. Als 2016 einer seiner Segelfreunde eine Mail über seinen Einsatz als Seenotretter herumschickte, dachte er noch, das sei prima Abenteuerurlaub für wenig Geld. „Als ich dann auf der Sea-Eye stand, hab ich gemerkt: Abenteuer war gestern. Jetzt ist humanitäre Notwendigkeit angesagt.“ Und so kam Nuding zu einer Mission, die ihn seitdem nicht mehr loslässt. „Kein Mensch verdient den Ertrinkungstod.“

Hunderttausende Kata­stro­phen auf dem Boden der EU

Und er ist nur einer von vielen, die an diesem Seebrücke-Aktionstag in vielen Städten auf die Straße gehen, um vor der Landtagswahl ein Zeichen zu setzen. Aufstehen gegen Rassismus ist da und bietet Stammtisch-Argumentation gegen Populisten an, beim Flüchtlingsrat gibt’s Aufkleber und Infos. Am Stand von Just Human, einer Stuttgarter Organisation, die sich um Geflüchtete aus der LGBT-Community kümmert, gibt es eine Sprachnachricht zu hören von einem schwulen Mann, der aus dem Iran geflohen ist und nun in Griechenland festsitzt. Wegen Corona hat kein Amt geöffnet, sein Asylantrag hängt in der Luft, ohne den gibt es kein Geld, ohne Geld kein Essen, kein Obdach. Der Mann auf dem Band erzählt beschämt, wie er tagsüber im Park sitzt und am Abend für einen Schlafplatz mit fremden Männern mitgeht und hofft, dass sie keinen Sex mit ihm wollen. Das klappe manchmal, manchmal auch nicht, und zu der Ungewissheit, was aus ihm werden wird, gesellt sich die Furcht vor HIV. Katja Walterscheid, die Vorsitzende des Vereins, bringt es auf den Punkt: „Das ist eine Katastrophe.“

Und nur eine von hunderttausenden, die sich auf dem Boden der EU ereignen. Erst kürzlich hatte das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht entschieden, dass Geflüchtete, die in Griechenland anerkannt sind, momentan nicht dorthin abgeschoben werden dürfen, weil dort „die ernsthafte Gefahr einer ­unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“ drohe.

Lena Noller hat die Stuttgarter Seebrücke-Gruppe mit aufgebaut, gegründet im Juni 2018, als die Lifeline mit 234 Menschen an Bord tagelang nicht anlegen durfte. Damals hatten mehrere Städte angeboten, die Menschen vom Schiff aufzunehmen. Das scheiterte an europäischer Uneinigkeit und an Betonköpfen wie CSU-Innenminister Horst Seehofer. Ein Jahr später gründeten 13 Städte das kommunale Bündnis „Städte Sicherer Häfen”. Sie erklären sich bereit, mehr Flüchtende aufzunehmen als ihnen durch die Verteilungsquoten zugewiesen werden. Und kämpfen seither dafür, das auch tun zu dürfen. Seit April vergangenen Jahres hat die Bundesregierung 2.151 Menschen aus Griechenland nach Deutschland geholt, bis April sollen es 2.700 werden. Darunter auch Minderjährige, rund 20 davon leben in Baden-Württemberg. Da, meinen die Kommunen, geht mehr.

Körper ohne Kopf und Hand

„Es wird immer auf die europäische Lösung gesetzt“, sagt Noller. „Aber das funktioniert nicht. Es ist eine dauernde Verschiebung von Zuständigkeiten, Menschen werden zum politischen Spielball, um Machtverhältnisse zu demonstrieren.“ An einem der Stände gibt es ein Buch, das auf mehreren hundert Seiten diejenigen auflistet, die an der Festung Europa gestorben sind: „28. 9. 2018, Frau, Herkunft unbekannt, ertrunken, Leiche im fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung auf dem Strand Peña Parda La Herradura gefunden. 23. 9. 2018, schwangere Frau, Herkunft Subsahara-Afrika, ertrunken, Körper der schwangeren Frau wurde mit fehlendem Kopf und Hand am Strand von Cabo Negro gefunden.“

Noller sagt, man spräche immer nur von Zahlen, von so und so vielen, die festsitzen, so und so vielen Toten. „Dabei geht es um Menschen.“ Noller hat die zweitägige Aktion am Marienplatz mitorganisiert, vor der Landtagswahl, um den Forderung der Initia­tiven Nachdruck zu verleihen und den WählerInnen vor Augen zu führen, wie die Parteien dazu stehen.

„Sich aktiv für sichere Fluchtwege und für die Einführung staatlich organisierter ziviler Seenotrettungsmissionen“ einzusetzen, ist eine der Forderungen. „Neue Landesaufnahmeprogramme“ auflegen, die über die Bundesaufnahmeprogramme hinausgehen, und sich bei der Bundes­regierung für solche stark machen, eine andere. „Sichere Bleibeperspektiven schaffen“, den aktuellen Push-Back-Vorwürfen gegen Frontex mit Nachdruck nachgehen, vor allem, weil auch Polizisten aus Baden-Württemberg für Frontex arbeiten. „Sich dafür einsetzen, die Abschiebehaft in Baden-Württemberg zu beenden“. „Wer dort einsitzt, bekommt nicht einmal einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt“, sagt Lena Noller. Vor allem will die Seebrücke, dass sich das breite Bündnis der Willigen gegen die anhaltende Kriminalisierung der Seenotrettung stark macht.

Schiffe werden in Häfen festgesetzt, damit sie nicht mehr auslaufen, die Crews werden juristisch verfolgt. Carola Rackete etwa, vom damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini beschimpft und gehasst, verhaftet und unter Haus­arrest gestellt, weil sie ein Schiff mit Flüchtlingen ohne Genehmigung in den Hafen von Lampedusa gefahren hatte. Gegen die ehemalige Crew der Iuventa10 wird seit drei Jahren ermittelt, nun sind 21 Personen, darunter eine Frau aus Konstanz, angeklagt wegen Schleuserei und Beihilfe zur illegalen Einreise.

Konstanz ist Alan-Kurdi-Pate

Mittlerweile sind fast 250 Städte und Kommunen in Deutschland zumindest theoretisch und symbolisch Sichere Häfen, manche helfen aktiv: Der Landkreis Konstanz hat eine Patenschaft für das Seenotrettungsschiff Alan Kurdi abgeschlossen, München ist Pate der Ocean Viking, hat 134.992,38 Euro Spenden gesammelt und selbst nochmal 100.000 draufgelegt. Greifswald und Darmstadt sind Paten der Sea-Eye 4. Mehrfach hatte sich Darmstadts Oberbürgermeister an Horst Seehofer gewendet, zuletzt nach dem Brand in Moria: „Aufgrund der akuten Not der Betroffenen bitte ich Sie um schnelles und entschlossenes Handeln.“

Am Innenministerium scheitert die kommunale Hilfsbereitschaft. Es geht um § 23 Aufenthaltsgesetz. Zwar dürfen die Länder aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Bisher allerdings muss der Bundesinnenminister dazu sein Placet geben.

Und das tut er in der Regel nicht. Weil nicht gewährleistet werden könne, dass Aufgenommene aus der einen Kommune nicht in eine andere umsiedeln, und potenziell allen Ländern Deutschlands zur Last fallen. Der in Deutschland hochgerühmte Föderalismus greift in pandemischen Lagen, in humanitären bleibt er auf der Strecke.

Eine Bundesratsinitiative der Länder Thüringen und Berlin wollte das 2019 ändern und forderte, dass der Innenminister nur noch „ins Benehmen“ gesetzt werden müsse. Sowohl CDU als auch die SPD im Bundestag waren dagegen. Mittlerweile hat das Land Berlin eine Klage gegen den Bundesinnenminister angestrengt, weil der die Aufnahme von 300 Menschen aus dem abgebrannten Lager Moria abgelehnt hatte. Die Seebrücke möchte von den Fraktionen im Landtag auch wissen, wer sich der Klage anschließen würde. Die SPD und die Linke würden. CDU und FDP nicht, die Grünen eiern.

Dabei hat Baden-Württemberg schon vorgemacht, dass es geht, als das Land 1.000 Jesidische Frauen nach Baden-Württemberg holte, die vom IS verfolgt waren. Wenn auch manche meinen, das sei so ein „Christending“ zwischen dem gläubigen Kretschmann und CDU-Mann Volker Kauder gewesen. Der „Schwäbischen Zeitung“ sagte Kauder kürzlich im ungewöhnlichen Duo mit Hilde ­Mattheis (SPD): „Europa ist nicht nur eine Einrichtung von Euro und Cent, sondern eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft. Wenn solche Flüchtlingslager das Ergebnis dessen sind, dann hat dieses Europa seine Seele verloren.“

Die 1.000 aufgenommenen Frauen ist eine der rühmlicheren Geschichten aus Deutschland, dem Land, das es geschafft hat, Willkommenskultur zu predigen und hintenrum die Asyl-Gesetze so zu verschärfen, dass auch wirklich keine Maus mehr durchs eng gewebte Netz schlüpfen kann.

Wie eng das Netz ist, hat die Stadt Ludwigsburg erfahren: Seit September 2020 ist sie Sicherer Hafen und wollte, damit das Bekenntnis zur Seebrücke keine Worthülse bleibt, nach dem Feuer in Moria gezielt helfen: Einer vierköpfigen Familie, zu der ein Ludwigsburger Paar Kontakt hatte. „Das Ausländerrecht ist mega-komplex“, erzählt der Leiter des Bürgerbüros der Stadt. Dutzende Anfragen hat der Mann gestellt, geschrieben und telefoniert, und auch freundliche Antworten bekommen. Aber letztlich wurde die Stadt immer wieder darauf verwiesen, dass die EU „eine einheitliche Haltung anstrebe“, was die Aufnahme von Geflüchteten beträfe.

„Wir in Europa haben Bürgerrechte, wir haben Menschenrechte“, sagt Kapitän Nuding in Stuttgart. „Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis bekommen. Und dann werfen sie diese Gesetze einfach ins Eck. Das ist nicht mein Europa.“

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