Niedergang einer lokalen Ökonomie: Erst die Flammen, dann die Razzien
In der Hamburger Billstraße hat sich ein reger Handel mit Elektrogeräten und Autos entwickelt. Dann brannte es eine Woche lang. Seitdem ist alles anders.
A uf den ersten Blick wirkt das geschäftige Treiben in der Billstraße in Hamburg auch Monate nach dem Großbrand unverändert. Verkaufsflächen reihen sich aneinander, Ladenbesitzer sitzen auf Stühlen davor und unterhalten sich mit Laufkundschaft und Bekannten, hier und da eine Imbissbude zwischen den Lagerhallen. Die Anwohner*innen und Beschäftigten scheinen müde, vor allem von Schaulustigen, die seit dem Brand immer noch kommen.
Das Bezirksamt spricht von „basarähnlichen Strukturen“, das stadtpolitische Ziel für die Billstraße in Hamburg ist die Umwandlung in ein „klassisches Industriegebiet“.
Der Brand am Ostersonntag dieses Jahres begann mit kleinen Flammen in lagernden Autos und Waschmaschinen und entwickelte sich zu einem der schwersten Brände der vergangenen Jahre in Hamburg. Eine Woche dauerte es, bis auch die letzten Glutnester gelöscht waren, Tausend Feuerwehrleute waren involviert.
Nach dem Großbrand, bei dem 17.000 Quadratmeter Lagerfläche abgebrannt waren, hatte die Stadt hier Verstöße gegen die Brandschutzordnung und illegale Wohnunterkünfte auf den Gewerbeflächen entdeckt. Seitdem fanden vier Razzien statt, zuletzt am Dienstag dieser Woche: Die Polizei durchsuchte zwölf Gaststätten und Imbisse und kontrollierte, ob es Verstöße gegen Bau- und Lebensmittelrecht sowie Brandschutzauflagen gab oder Schwarzarbeit.
Als Teil des Industriegebietes Billbrook/Rothenburgsort ist die Billstraße von großem industriepolitischem Wert. Sie gehört zum größten zusammenhängenden Industriegebiet Norddeutschlands außerhalb des Hamburger Hafens und liegt angebunden an die S-Bahn-Haltestelle Rothenburgsort. Umgeben von Kanälen und mehr als 1.000 Betrieben, hat sich in dieser Straße in den vergangenen Jahrzehnten ein Verkaufsort für gebrauchte Elektrogeräte entwickelt. Was mit dem An- und Verkauf vereinzelter Geräte begann, entwickelte sich zu Kleinbetrieben und Lagerhallen, die sich in den Straßen aneinanderreihen. Es werden Haushaltsgeräte verkauft, Fahrräder oder Abendkleidung.
„Die Menschen in der Billstraße sind zum Arbeiten hier und das meistens schon seit 40 Jahren“, erzählt Moradi Javad. Er ist der Besitzer einer der drei abgebrannten Lagerhallen und musste im April zusehen, wie seine Arbeit in Flammen aufging. Danach stand er vor dem Nichts, hat nun gegenüber der Brandstelle ein kleineres Gewerbe aufgemacht.
Javad ist wütend, sieht die Verantwortung bei der Stadt. Er finde es schade, dass alle Gewerbetreibenden in der Billstraße pauschal vorverurteilt würden. „Die meisten haben mit den illegalen Wohnunterkünften nichts zu tun, sie haben sich hier ein Leben aufgebaut, zahlen seit Jahrzehnten Steuern. Was passiert mit diesen Menschen, mit uns?“
Für viele der dort Beschäftigten ist die Billstraße ihr Lebensmittelpunkt. 35 Prozent der Einwohner*innen im Stadtteil Rothenburgsort besitzen keine deutsche Staatsbürgerschaft. Der Besitzer einer Imbissbude in der Billstraße nennt das Gebiet scherzhaft das „kleine Afghanistan“ Hamburgs. Ein Narrativ, das von rechts-konservativen Parteien nur zu gern aufgegriffen wird.
Auf Fragen der taz reagieren viele verhalten, namentliche Erwähnungen werden von den meisten Passant*innen abgelehnt. Der überwiegende Teil von ihnen ist sich aber einig: Geändert hat sich hier nicht viel. „Diese Altautos wurden mehr entfernt, die standen hier überall auf den Straßen herum“, erzählt eine Bewohnerin. Mehr Polizeipräsenz sei ihr aber nicht aufgefallen. „Außer während der Razzien, da wurde hier die ganze Straße gesperrt.“
Lutz Hinrichs sei vor allem die Veränderung der Infrastruktur um die nahe gelegene S-Bahn-Station aufgefallen. Er arbeitet bei der Sozialbehörde gegenüber der Station und hat den Wandel der vergangenen Monate beobachtet: „Da sind Cafés und ein Fitnessstudio entstanden, der Frisör wurde renoviert.“
Hirad Afraz sieht eine Veränderung vor allem durch die Anzahl der Kund*innen. Er arbeitet seit Anfang des Jahres in dem Frisörsalon und frisiert viele der Gewerbebesitzer*innen. „Seit dem Brand haben wir fast keine Laufkundschaft mehr, nur noch die Stammkunden von hier.“ Er wisse selbst wenig über behördliche Maßnahmen, seine Kund*innen erzählten aber, dass die Polizeikontrollen in den Läden gestiegen seien. „Die Polizei will hier Ordnung machen – vielleicht gar nicht so schlecht.“ Er lacht. „Ich habe gehört, sie wollen hier alles plattmachen, dann soll Hafengelände hier hin. Aber keine Ahnung.“
Angst vor der Zukunft
Keine Ahnung – so scheint es den meisten zu gehen, die in oder um die Billstraße arbeiten. „Ich habe gehört, bald gibt es eine neue Billstraße in Richtung Kiel“, erzählt ein Imbissbudenbesitzer, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte. „Viele haben durch den Brand ihre Arbeit verloren, gehen weg, meine Kundschaft hat sich halbiert. Ich bin seit acht Jahren hier und ich habe keine Ahnung, was mit meinem Imbissladen passieren wird.“
Moradi Javad beobachet und dokumentiert seit dem Brand die politischen Maßnahmen genau. Davor habe sich niemand für die Zustände in der Billstraße interessiert, die Altautos würden erst seit April vermehrt entfernt werden. „Das ist schon jahrelang ein Problem, aber wir wurden immer ignoriert.“
Viele Beschäftigte seien durch den Brand traumatisiert worden, hätten Angst vor der Zukunft. „Durch die Razzien wird die Straße ständig gesperrt und die Kundschaft fällt aus.“ Es gehe immer um die Grundeigentümer oder die Gewerbe, die gegen Auflagen verstoßen, sagt Javad. Aber die Zukunft der Billstraße betreffe noch Hunderte andere Beschäftigte, „die sich von der Politik vergessen fühlen“.
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