Nicole Jäger spricht über ihre Essstörung: „Meine Waffe, mein Heilmittel war das Essen“
Mit Humor und Selbstironie schreibt und spricht Nicole Jäger live und im Kabarett über das Dicksein. Und sie ist als Heilpraktikerin für Essstörungen hoch begehrt
HAMBURG taz | „Wie ist es denn, ein dicker Mensch in dieser Gesellschaft zu sein? Was bedeutet es denn, eine Essstörung zu haben und von allen als Vollidiot wahrgenommen zu werden? Und dann soll man immer noch lächeln, und es soll alles okay sein.“ Die Worte kommen mit Verve. Es schwingen darin die eigenen verletzenden Erfahrungen mit, zugleich aber auch der Widerstand, den Nicole Jäger diesen Zumutungen entgegensetzt.
Die 33-jährige Hamburgerin weiß, wovon sie spricht: Sie wog 340 Kilo und hat im Laufe von sieben Jahren die Hälfte abgenommen. Sie hat darüber ein Buch geschrieben, das zu einem Bestseller wurde. Sie hat eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht und betreibt seit zwei Jahren eine Praxis für Ernährungsberatung. Und seit einiger Zeit ist sie mit einem Bühnenprogramm auf Tour: „Ich darf das, ich bin selber dick.“
Sie darf Witze übers Dicksein machen; sie darf als immer noch dicke Frau ein Buch übers Abnehmen und den besseren Umgang mit sich selbst schreiben – sie darf nicht nur, sie könne es auch besser als jene, „die immer nur über Übergewichtige sprechen“, sagt Nicole Jäger selbstbewusst.
In ihrem Buch erzählt sie, wie es so weit kommen konnte, dass sie ihre Wohnung nicht mehr verließ, aus Scham und vor Schmerzen. Sie erklärt, warum Diäten nicht funktionieren können; welche oft negativen Folgen chirurgische Eingriffe zur Magenverkleinerung haben. Vor allem aber ermutigt sie andere, dass es möglich ist, etwas zu ändern – wenn sie es denn wollen. Ihre Ansätze sind Wissensvermittlung und Humor. Sie will mit falschen „medizinischen Fakten“ und mit Vorurteilen und Abwertungen Dicken gegenüber aufräumen; aber sie auch bei ihrer Eigenverantwortung packen.
Nicole Jäger sitzt am Schreibtisch ihrer Praxis. Ein warmer Raum, viel Holz. Zu ihr kommen nicht nur Übergewichtige. Auch Magersüchtige und Menschen, die an der Ess-Brechsucht, der Bulimie leiden, sitzen ihr hier gegenüber. Immer arbeite sie mit Humor, erzählt sie. „Humor ist eine schöne Art, um Ehrlichkeit auszudrücken. Um Menschen zu erreichen. Ich glaube, dass Menschen sich daran erinnern, was sie empfunden haben, nicht daran, was sie gehört haben.“ Wie die junge Frau, die nur noch 34 Kilo wog, diverse Klinikaufenthalte hinter sich hatte und zu ihr sagte, dass sie zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder gelacht habe. Das war ein Anfang.
Gefühle kompensieren
Auch im Gespräch blitzt der selbstironische Witz Nicole Jägers immer wieder auf, man kann sie sich gut auf der Bühne vorstellen. Ihr Lachen ist ansteckend. Ihre Ernsthaftigkeit einnehmend, beim Sprechen hält sie stets Blickkontakt. Es geht hier um ihr Lebensthema.
Übergewicht, sagt Nicole Jäger, habe wenig mit Essen, aber viel mit Emotionen zu tun. So sei es auch bei der Magersucht oder der Bulimie. Negative Gefühle würden mit Essen kompensiert beziehungsweise über dessen Verweigerung. Während aber die Magersucht als Essstörung anerkannt sei – die Betroffenen fatalerweise gar „ein bisschen glorifiziert“ würden, „weil wir in einer Leistungsgesellschaft leben, in der magersüchtig mit diszipliniert sein gleichgesetzt wird und schön dünn sein positiv besetzt ist“ –, bekämen die Dicken die ganze Verachtung dieser Gesellschaft zu spüren. Fett gleich faul, undiszipliniert, dumm. Es ließen sich weitere Vorurteile hinzufügen.
Dass auch Übergewichtige oftmals an einer Essstörung leiden, die sich aus einer emotionalen, psychischen Notsituation heraus entwickelt, ist nicht anerkannt. Auch nicht bei ÄrztInnen. Das hat auch Nicole Jäger erfahren, wie Abfall sei sie behandelt worden. Der einzige „Rat“: Sie solle abnehmen. Wie? Mehr bewegen, Sport machen, Salat essen.
Das mit dem Sport ist in Nicole Jägers Fall von bitterer Ironie: Bis zum Alter von 14 Jahren hat sie Leistungssport betrieben, Geräteturnen. Nebenher Schwimmen, Radfahren und Inline-Skaten. „Ich habe mich darüber definiert, ich bin ein totaler Wettkampftyp gewesen“, erzählt sie. „Und ein Dreivierteljahr später soll der Stufenbarren, an dem ich Preise gewonnen habe, mir helfen, wieder laufen zu lernen.“
Ein Trampolinunfall zerschmetterte beide Hüftgelenke, sie saß lange im Rollstuhl, die Prognosen, wieder laufen zu können, standen schlecht. Sie bekam Hausunterricht, ihr damaliger Freundeskreis löste sich in Luft auf. Neben den starken Schmerzen sei das Gefühl, allein zu sein, das Härteste gewesen, sagt sie.
Der Unfall war ein Wendepunkt in ihrem Leben. „Danach ging es steil bergab“, erzählt Nicole Jäger. Essen wurde zum Sportersatz und Trost. Eindrücklich schildert sie im Buch, wie sie sich lange vormachte, alles unter Kontrolle zu haben. „Typisches Süchtigenverhalten“, sagt sie heute. Lange funktionierte das soziale Leben noch, sie machte Abitur, jobbte.
Und diese gigantischen 340 Kilo, wie konnte es dazu kommen? Natürlich habe sie gemerkt, dass sie immer fetter wurde, sie sei ja nicht auf den Kopf gefallen. Aber: „Meine Waffe und mein Heilmittel war das Essen. Und wenn ich über Leistung keine Anerkennung mehr bekommen konnte, dann eben über Leid.“ Dazu der Selbstbetrug, das Selbstmitleid. Zwischendrin Diäten, sie kennt sie alle. Darin habe sie sich lange eingerichtet. Selbst dann noch, als sie vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, die Wohnung nicht mehr verließ.
Bis zu dem Tag, als sie glaubte, einen Herzinfarkt zu haben, sterben zu müssen. Da war sie Mitte 20. Erst jetzt riss sie das Ruder rum. Akzeptierte, dass sie Hilfe brauchte. Aber die OP zur Magenverkleinerung konnte es nicht sein. Die hätte ja die Ängste, die schlechten Gefühle, den Minderwertigkeitskomplex nicht mit weggeschnitten. Dass es genau darum ging, war die entscheidende Erkenntnis. Da musste sie ran. Und klar, auch anders essen. Aber eben essen, nicht diäten.
„Für mich war es ein schwerer, aber auch unglaublich heilender Moment zu sagen, sei doch mal ehrlich!“, erzählt sie. Das bedeute auch zu erkennen, dass sie sich selbst in diese Lage gebracht habe. Trotz aller Gründe trage letztlich sie die Verantwortung für ihr Verhalten, was aber auch die Chance biete, es zu verändern.
Mit diesem Ansatz arbeitet die Heilpraktikerin. Er kommt bei vielen Betroffenen gut an. Sie nimmt die Menschen, mehr Frauen als Männer, ernst. „Die Leute fangen an ab- oder zuzunehmen, aufgrund der Tatsache, dass ihnen jemand zugehört hat. Ihnen sagt, dass er sie versteht und nicht nur als nicht perfekte Körper wahrnimmt“, erläutert Nicole Jäger. Sie betrachtet die individuellen Geschichten, geht den Ursachen nach und sucht nach Möglichkeiten, (Ess-)Gewohnheiten zu ändern. Sie fordert ihre KlientInnen – aber sie zwingt sie nicht. Helfen kann sie nur, wenn Hilfe gewollt ist. Ihre Warteliste ist lang.
Geballter Hass
Aber manche Übergewichtige werfen ihr Fatshaming vor, die Verachtung dicker Menschen. „Ich weiß, wo der Vorwurf herkommt: Der liegt in meiner Aussage, hör auf zu jammern und mach was! Das will niemand hören, ich wollte das früher übrigens auch nicht hören“, erzählt Nicole Jäger. „Aber ich behaupte nicht, alle Fetten sollen abnehmen. Ich sage, egal wie du aussiehst, du musst damit glücklich sein. Und wenn du das nicht bist, dann müssen wir etwas daran tun. Denn dass du übergewichtig bist, ist nicht das Problem, sondern dass du unglücklich bist.“
Nicole Jäger lacht zwar, als sie erzählt, manche behaupteten gar, sie sei gar nicht dick, sondern trage einen Fatsuit, verkleide sich also, aber man spürt doch ihre verwunderte Kränkung.
Aus anderer Richtung schlägt ihr geballter Hass entgegen: „Wenn du fette Schlampe den Schneid hast, mit dieser Scheiße aufzutreten, dann kommen wir und stechen dich ab, du Fotze“. Sie hat diesen Satz aus einer Mail in ihr Bühnenprogramm aufgenommen hat. Sie erzählt aber auch, dass sie einmal kurz davor war hinzuschmeißen, in irgendeinem Hotelzimmer saß und ihr zum Weinen war angesichts solcher Drohungen.
Aber Aufhören ist keine Option. Würden all ihre überflüssigen Kilos über Nacht von Zauberhand verschwinden, ihre Praxis würde sie weiterführen. Doch der tatsächliche Weg ist noch hart. „Ich bin immer noch essgestört, das ist wie beim Alkoholiker, nur dass ich ja auf das Essen nicht verzichten kann“, erklärt sie. Sie will weiter abnehmen, bis die Lebensqualität für sie stimmt. Keine Schmerzen mehr zu haben, gehört dazu.
Und die Praxis, das Bühnenprogramm, dazu ein weiteres Buch in Planung – das ist nicht Beruf, sondern Berufung. Nur manchmal fühle sie sich müde ihrem eigenen Thema gegenüber: „Manchmal möchte ich einfach fertig sein. Manchmal möchte ich nicht drüber reden.“
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