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Nichts hält sie noch. Immer wieder versuchen vorwiegend junge Leute, dem Chaos in Albanien zu entkommen. Dort ist die Krise längst nicht überwunden. Die Bevölkerung lehnt ihren selbstherrlichen Präsidenten mehrheitlich ab, die Aufständischen im Süden und nahezu alle Parteien wollen Neuwahlen. Die aber will Sali Berisha unbedingt verhindern: Seine Partei hätte keine Chance Aus Tirana Thomas Schmid

Notstand kommt Berisha zupaß

In Tirana kursiert ein neuer Witz. Stehen zwei Polizisten auf dem Skanderbeg-Platz, kommt ein Mann daher. Der eine Polizist erschießt ihn, sagt der andere: „Es ist doch erst Viertel vor acht.“ Sagt der erste: „Weiß ich auch, aber ich kenn den Mann, der wohnt weit draußen und hätte es nicht mehr geschafft, vor acht Uhr nach Hause zu kommen.“ Da prusten die Männer im Kaffeehaus vor Lachen, und als der Erzähler dann noch die Moral von der Geschichte enthüllt – „es gibt Polizisten, die sogar bis 15 Minuten weit denken können“ –, klopfen sie sich auf die Schenkel. Um acht Uhr abends werden in ganz Albanien die Bürgersteige hochgeklappt: Ausgangssperre.

Ansonsten ist vom Notstand in Tirana nicht viel zu spüren. Nur Koha Jone, die unabhängige Zeitung, hat wieder eine Lippe riskiert. Am vorletzten Sonntag wurde die Auslieferung polizeilich unterbunden. Zuerst dachten die Journalisten, das Corpus delicti sei die Karikatur auf der ersten Seite. Da hatte man das in Albanien sattsam bekannte Bild der vier aneinandergereihten Köpfe von Marx, Engels, Lenin und Stalin ein bißchen abgeändert: Stalin wurde durch Sali Berisha, den Präsidenten Albaniens, ersetzt.

Doch dann war es doch die Schlagzeile, mit der die Zensur, die vor drei Wochen offiziell abgeschafft worden ist, begründet wurde. „Morgen Demonstrationen in 20 Städten“, hatte es da geheißen. Die lokalen Komitees der Aufständischen hatten zu täglichen Demonstrationen für die Durchführung der Wahlen aufgerufen. Versammlungen von mehr als vier Personen aber sind zur Zeit nicht erlaubt. Und so wurde der Titel als Aufforderung zum Gesetzesbruch interpretiert. König Lek Zogu, der im Alter von zwei Tagen das Land 1939 verlassen hatte und nun angereist war, um sich seinem Volk auf öffentlichen Kundgebungen vorzustellen, wurde im übrigen nicht festgenommen.

Die für den 29. Juni vorgesehenen Wahlen sind für Berisha weitaus gefährlicher als der König. Seine Demokratische Partei droht sie haushoch zu verlieren, und so scheint der Präsident alles daran zu setzen, sie zu verschieben. Solange die Aufständischen ihre Waffen nicht abgegeben hätten, sei an Wahlen nicht zu denken, sagt er. Berisha erhob gestern in einem Interview mit der in Berlin erscheinenden Tageszeitung Die Welt schwere Vorwürfe gegen die Sozialisten unter Regierungschef Fino. Die ehemaligen Kommunisten hätten mit den Komitees der Aufständischen eine „Allianz“ geschlossen. „Mit diesen Komitees kann es keine freien Wahlen geben“, sagte Berisha. Solange Berisha an der Macht sei, erklären die Rebellen indes schon seit über einem Monat, würden sie ihre Kalaschnikows behalten. Die Demokratische Partei beharrt auf dem Mehrheitswahlrecht, das ihr im letzten Jahr eine bequeme parlamentarische Mehrheit verschafft hat. Sämtliche übrigen Parteien, ob Monarchisten oder Republikaner, Nationalisten oder Sozialisten, wollen ein Verhältniswahlrecht. Dem Präsidenten kommt jeder Streit zupaß. Er spielt auf Zeit in der Hoffnung, daß sich die von allen Parteien gebildete neue „Regierung der nationalen Versöhnung“ unter dem sozialistischen Ministerpräsident Bashkim Fino verschleißt. Diese ist einzig und allein gebildet worden, um Wahlen durchzuführen und dem Land einen Krieg zu ersparen.

Denn selbst einen Krieg gegen den Süden faßten bestimmte Kreise des von Berisha kontrollierten Geheimdienstes Shik ins Auge, behauptete jüngst der neue Verteidigungsminister Shaqir Vukaj in einer aufsehenerregenden Rede vor dem Parlament. Wörtlich sagte der Sozialist: „In den ersten Märztagen wurden an die Mitglieder der Demokratischen Partei Waffen ausgegeben“, der Shik sei mit schweren Waffen ausgerüstet worden. Bashkim Kopliku, bis vor einer Woche Mitglied der Führung der Demokratischen Partei, bestätigte, Präsident Berisha habe bei einer Fraktionssitzung die Bewaffnung der Mitglieder und Sympathisanten der Partei förmlich angeordnet. Schwere Vorwürfe, die, träfen sie zu, in jeder Demokratie ein Straf- und Impeachmentverfahren nach sich zögen.

Auch Dashamir Shehi und Alfred Serreqi gehen davon aus, daß Mitglieder der Partei des Präsidenten systematisch mit Waffen ausgestattet wurden. Der erste hat zusammen mit Berisha die Demokratische Partei gegründet und diente ihm bis Mai vergangenen Jahres vier Jahre lang als stellvertretender Ministerpräsident, der zweite war ebensolang Außenminister. Beide haben vor zehn Tagen die Demokratische Partei verlassen und zusammen mit einem weiteren Gründungsmitglied, Genc Ruli, ehemals Finanzminister, und drei Mitgliedern der Parteiführung die Bewegung für die Demokratie ins Leben gerufen. Es ist die dritte große Abspaltung in der erst sechs Jahre alten Geschichte der Partei. Diesmal sieht es ganz danach aus, als ob die Ratten das sinkende Schiff verlassen würden.

Ihren Sitz hat die neue Partei in einem Hinterzimmer eines Restaurants. Berisha, „ein bekehrter Kommunist“, habe die Partei immer im Stil eines allmächtigen Generalsekretärs kontrolliert, sagt Shehi, der selber nie der kommunistischen Partei der Arbeit des alten Regimes angehört hat, er habe die innerparteiliche Demokratie ruiniert. Das ist dem Mann allerdings ziemlich spät aufgefallen. Auf die Frage, weshalb er denn erst jetzt, wo alles verloren scheint, ausgetreten sei, meint er nur, man habe doch die Extremisten der Sozialistischen Partei irgendwie stoppen müssen. Serreqi pflichtet dem bei. Im übrigen lehnt er juristische Schritte gegen Berisha ab. Immerhin herrsche Notstand, und da könnten die Prinzipien des Rechtsstaates nicht gelten.

Noch ist der Ausgang der albanischen Krise völlig offen. Der Präsident, der von einer übergroßen Mehrheit der Albaner, die beim Zusammenbruch der dubiosen Finanzpyramiden sämtliche Ersparnisse verloren haben, abgelehnt wird, klebt an der Macht. Funktionierende staatliche Strukturen gibt es kaum. Nach der Auflösung der Armee und der Flucht des geschaßten Verteidigungsministers nach Italien bemüht sich dessen Nachfolger gerade, wieder bewaffnete Streitkräfte zusammenzustellen. Der Chef des gefürchteten Geheimdienstes Shik mußte zurücktreten. Der sozialistische Ministerpräsident Bashkim Fino, dem Berishas bewaffnete Verbände jüngst den Zutritt zur zweitgrößten Stadt des Landes, Shkodär, verwehrten, setzte den Polizeichef ab. Was der wiederum nicht akzeptierte.

Alles deutet darauf hin, daß die Sozialistische Partei, gewendete Nachfolgerin der Kommunisten, die Wahlen gewinnen wird. Ihr Chef, Fatos Nano, in einem skandalösen Prozeß zu elf Jahren Haft verurteilt, ist heute vermutlich der populärste Mann des Landes. Immerhin hat er vier Jahre im Gefängnis geschmachtet, während sein ideeller Kerkermeister in dieser Zeit das Land ruinierte.

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