piwik no script img

„Nicht an einen Kadaver ketten“

Argentinien und Paraguay wollen das Inkrafttreten des gemeinsamen Marktes mit Brasilien und Uruguay mit dem Namen Mercosul bis ins nächste Jahrtausend verschieben  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Genau ein Jahr vor seiner Verwirklichung droht der Traum vom gemeinsamen Markt der vier südamerikanischen Länder Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, genannt „Mercosul“, zu zerplatzen. Die allgemeine Unzufriedenheit richtet sich gegen Brasilien, das den größten Teil des gemeinsamen Bruttosozialproduktes von rund 500 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Die Nachbarn des tropischen Riesenreiches werfen der Regierung in Brasilia vor, die Wettbewerbsbedingungen zu verzerren. Bei einem Treffen zwischen den Wirtschaftsministern Brasiliens und Argentiniens am letzten Freitag in São Paulo wurde deshalb eine binationale Kommission damit beauftragt, Lösungen für die ins Stocken geratenen Mercosul-Verhandlungen zu erarbeiten.

„Angesichts der wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen Brasilien und Argentinien wäre es besser, die Übergangsphase bis zum Inkrafttreten des Vertrages am 1.1.95 zu verlängern“, mahnt Jorge Gaibisso, Vorsitzender des argentinischen Industrieverbandes UIA. Zu der Abstimmung „makroökonomischer Entscheidungen“ gehört für ihn die Senkung der brasilianischen Inflationsrate, die bei 35 Prozent im Monat liegt. Außerdem sind dem argentinischen Industriellen die niedrigen brasilianischen Energiepreise und Löhne ein Dorn im Auge.

Paraguay ist ebenfalls skeptisch, ob der im März 1991 in der Hauptstadt Asunción ausgehandelte Zeitplan einzuhalten ist. Das kleine Land sträubt sich gegen die Einführung eines gemeinsamen Importzolls für Nichtmitglieder des Mercosuls. „Wenn wir unsere Tarife erhöhen, müssen wir in Zukunft alles von Brasilien kaufen“, sagte Paraguays Wirtschaftsminister Crispiniano Sandoval gegenüber der brasilianischen Gazeta Mercantil. Paraguay könne nicht dazu verdonnert werden, für die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der brasilianischen Industrie aufzukommen.

Die Skepsis gegenüber dem Abkommen beruht auf drei Gründen: Brasilien überschwemmt den argentinischen Markt mit billigen Kapitalgütern und bringt dadurch die argentinische Handelsbilanz ins Ungleichgewicht. Argentinien schielt nach Norden und buhlt um die Aufnahme in die Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und Mexiko, Nafta. Und nicht zuletzt ist der von Argentiniens Präsident Menem und Brasiliens Ex- Präsident Collor einst ausgearbeitete Zeitplan für die Verwirklichung sehr knapp bemessen.

Statt sich aneinander anzupassen, sind die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den beiden wichtigsten Mitgliedstaaten Brasilien und Argentinien in den letzten zwei Jahren immer stärker geworden. Während Argentinien durch die Dollarisierung seine Inflation erfolgreich bekämpft hat, schlägt sich Brasilien seit über einem Jahr mit einer monatlichen Geldentwertung von über 30 Prozent herum. Die Koppelung des argentinischen Pesos an die amerikanische Währung hat Buenos Aires nach Tokio allerdings zum teuersten Pflaster der Welt gemacht.

Damit nicht genug. Im Gegensatz zu Brasilien erfüllte Argentiniens Staatsoberhaupt Menem brav die Auflagen von Weltwährungsfonds und Weltbank wie Privatisierung von Staatsbetrieben und den Abbau von Zollschranken. Die neoliberale Wirtschaftspolitik bescherte Argentinien eine negative Handelsbilanz. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete Brasilien einen Überschuß von 1,6 Milliarden Dollar.

Der Preisvorteil liegt nicht nur in der Überbewertung des argentinischen Pesos. Die Privatisierung der Energieversorgung und der Telefonbranche hat zur Verteuerung der Tarife geführt, ein entscheidender Nachteil gegenüber den niedrigen öffentlichen Tarifen in Brasilien. „Argentinien ist es leid, auf die Verwirklichung eines neoliberalen Reformprogrammes in Brasilien zu warten“, so der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler und Abgeordnete Jos Serra. Um sich nicht an einen Kadaver zu ketten, ist Nafta für Argentinien langfristig wichtiger als Mercosul, meint Serra.

In Argentinien wird Brasilien für die negative Handelsbilanz allein verantwortlich gemacht. „Dabei gibt es andere Länder, die wesentlich stärker zu dem unausgeglichenen Warenfluß beitragen, zum Beispiel die USA“, beschwert sich Marcos Castrioto de Azambuja, Botschafter Brasiliens in Buenos Aires. Die Vereinigten Staaten, die Argentinien als Musterbeispiel für eine erfolgreiche Wirtschaftssanierung weltweit preisen, profitierten von den neoliberalen Reformen, zu denen auch der Abbau der Zollschranken gehört, ganz besonders: Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres betrug die Handelsbilanz 1,8 Milliarden Dollar zu ihren Gunsten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen