New Yorker und ihr Alltag nach dem Terror: "Ich trage keinen Bürgerkrieg in mir"
Kein heißes Pflaster für Patriotismus - Künstler, Medienschaffende und Intellektuelle sprechen über ihren Alltag in New York und ihre Wahrnehmung der USA, zehn Jahre nach 9/11.
Politisches Ressentiment blendet es gern aus: Aber die USA sind ein Land voller Widersprüche. Und diese Widersprüche sind seit 9/11 stärker geworden, nicht schwächer. Sichtbar etwa an der erstarkten fundamentalistischen Rechten auf der einen Seite und an der losen progressiven Bewegung, die Obama ins Amt gehievt hat auf der anderen.
An Obama selbst, der kein radikaler Neuerer ist, sondern Mitte-links-Politik macht. An dem Selbstverständnis der USA als Weltmacht, wie an der Selbstkritik, die die Amerikaner an ihrem Land üben. Besser als in New York lassen sich diese Widersprüche nirgendwo beobachten. New York war und ist Mekka der Superreichen, aber auch Heimat newder arbeitenden Bevölkerung und einer Mittelklasse, die das Kulturleben der Stadt genauso geprägt hat, wie die welthaltige bürgerliche Hochkultur.
Sentimentalität mag sich Tim Sweeney nicht erlauben. "Wir müssen immer in Bewegung bleiben, Geld verdienen, um unsere Mieten zahlen zu können, versuchen, den Traum wahrzumachen", sagt der 32-jährige DJ und Moderator der New Yorker Radiosendung "Beats in Space". Wer als internationaler DJ auf sich hält, legt bei Sweeney in der Sendung auf. Er ist eine der Figuren, die das Popgeschehen in New York gestalten. Am besten zu erreichen ist er jedoch per E-Mail, weil er pausenlos unterwegs ist in der Weltgeschichte, um Platten aufzulegen. "Nach all meinen Reisen kann ich sagen, in New York ist die Mischung an Menschen mit unterschiedlicher Herkunft einfach am größten, deshalb fühle ich mich auch wohl."
"New York war im Ausnahmezustand"
Sweeney ist in Baltimore aufgewachsen, 1999 nach New York gezogen. Wenn er keine DJ-Engagements hat, arbeitet er im Aufnahmestudio der Plattenfirma DFA. Seit 13 Jahren sendet er jede Woche eine Folge von "Beats in Space". Auch am 13. September 2001 ging Sweeney auf Sendung, zwei Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center. "Durch Manhattan patrouillierten Militärfahrzeuge, New York war im Ausnahmezustand. Ich habe Musik gespielt, Platten gemischt und versucht, die Ereignisse für den Moment auszublenden."
Ganz so wie vorher sei New York nicht mehr. Was den Jahrestag anbetrifft, ärgert Sweeney, dass es so lange gedauert hat, bis eine Gedenkstätte entstanden ist. "Die neu entstandenen Gebäude sind nur ein müder Abklatsch der Twin Towers. Als ich nach New York gezogen bin, hat mich der Blick von der Sixth Avenue hinunter auf die beiden Türme fasziniert, und ich vermisse ihn."
Diesen Artikel und viele weitere spannende Geschichten über "Die Profiteure von 9/11" lesen Sie in der Sonderausgabe der sonntaz vom 10./11. September 2011 - am Kiosk oder am //www.taz.de/zeitung/e-Kiosk/:eKiosk. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per //www.taz.de/zeitung/abo/wochenendabo_mailing/:Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Sentimental wird der afroamerikanische Schriftsteller und Jazzkritiker Amiri Baraka nur, wenn es um das Kulturleben von New York geht. Eine Stadt, in der der 77-Jährige in den Fünfzigern und Sechzigern gelebt hat. Ihr hat er als Künstler alles zu verdanken. In New York reüssierte er zuerst als Autor am Theater und als Schriftsteller, dort schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften über Jazz, zu einer Zeit, "als diejenige Musik mit den größten Experimenten am populärsten war." Die Atmosphäre in New York habe ihm dabei geholfen, "kritisches Bewusstsein" zu entwickeln, sagt Baraka, zu dessen Freunden Musiker wie Archie Shepp zählten.
Gentrifizierung New Yorks
Er empfängt mich in seinem Haus in Newark, New Jersey, zum Lunch. Dorthin hat er sich Anfang der Siebziger zurückgezogen. Seit 1970 wird Newark von schwarzen Bürgermeistern regiert. Auf den jetzigen, für den Barakas Sohn als Berater arbeitet, müsse er besonders aufpassen. Der habe 100 Millionen US-Dollar von Facebook bekommen, um eine Privatschule zu erbauen. Auch die Vorstädte in New Jersey bekämen nun die Gentrifizierung New Yorks zu spüren. Die Gebühren für Hausbesitzer schnellen in die Höhe.
Bei Orangensaft, Spiegeleiern mit Speck und gebuttertem Toast redet er sich in Fahrt. Unmittelbar nach 9/11 hat Baraka eine Sonderausgabe der Zeitschrift Unity & Struggle mit der Schlagzeile "Revolutionaries against Terrorism" veröffentlicht. Inzwischen gehört er zu den 45 Prozent Amerikanern, die laut einer Umfrage von Gallup keine Geschichte mehr glauben, die ihnen offiziell erzählt wird. Baraka hängt bei 9/11 Verschwörungstheorien an.
Er sagt, die US-Regierung habe die Anschläge zugelassen. Die Wallstreet liege auf dem am besten bewachten Terrain des Landes, dorthin könne niemand unbemerkt Verkehrsflugzeuge steuern. Ob er damit sagen wolle, die USA haben den Tod von mehr als 3.000 ihrer Bürger in Kauf genommen, frage ich Baraka. "Was interessiert die schon 3.000 Menschenleben. 9/11 war doch Türöffner für die Kriege in Afghanistan und Irak." In Wahrheit gehe es ums Öl.
In Afghanistan, meint er das ernst? Ja, "dort haben sie Mineralien entdeckt". Schnell fällt das Gespräch auf den Nahen Osten. Auch in Libyen würde sich alles ums Öl drehen. Und dann beglückwünscht er den Gast aus Deutschland dafür, dass sein Staat nicht an den Bombardements auf Libyen beteiligt gewesen sei.
Von Freiheit zu Repression
Ansonsten fällt ihm für die Geschehnisse beim arabischen Frühling der französische Begriff "joie distante" ein. Während Homeland Security als Wortschöpfung Baraka an die deutsche Sprache erinnert. "Die USA haben nach den Anschlägen einen ganz anderen Charakter angenommen, wir werden seither nicht mehr mit Freiheit oder Demokratie assoziiert, sondern mit einem Image als repressiver Staat."
Positiver sieht Baraka die Entwicklung der Beziehungen unter den verschiedenen Herkunftsgruppen in seinem Heimatland. Er war eine der prominenten Stimmen der Black-Power-Bewegung und hat zusammen mit seiner zweiten Frau den Kampf um die gesellschaftliche Gleichstellung der Schwarzen seit den Sechzigern mit ausgefochten. Das hat Kraft gekostet.
An seiner rechten Schläfe prangt eine Narbe. Die habe ihm ein Polizist bei Auseinandersetzungen in seiner Heimatstadt Newark zugefügt, sagt Baraka. "Seit Obamas Wahlsieg haben sich die Rassenbeziehungen gebessert. Es gibt eine wachsende Anzahl wohlhabender und auch politisch einflussreicher Schwarzer. Auch wenn er uns in Einigem enttäuscht hat, werden wir ihn weiterhin unterstützen, wir haben gar keine andere Wahl."
"Eine starke Rechte mit faschistoiden Tendenzen"
Über den Zustand der Republikaner schüttelt Baraka nur den Kopf. Er erwähnt Rick Perry, den Gouverneur von Texas mit Ambitionen als republikanischer Präsidentschaftskandidat, der neulich gesagt habe, die Arbeitslosigkeit sei mit Gebeten überwindbar. "Manchmal erinnert mich der Zustand Amerikas an Deutschland während der Weimarer Republik. Es gibt Obama, auf den die progressiven Kräfte aufpassen müssen, und es gibt eine starke fundamentalistische Rechte mit faschistoiden Tendenzen."
Auch Ned Sublette schaudert es vor Rick Perry, den er einen "theokratischen Sezessionisten" nennt. Anders als Amira Baraka lässt Sublette an Präsident Obama aber kein gutes Haar. Der lasse sich von der Wallstreet zu viel reinreden. Zum Gespräch treffe ich den 60-jährigen Musiker und Autor im Baruch-College an der 24 Street East in Manhattan, wo er einen Kurs über hispanische Geschichte gibt.
Auf dem Parkplatz einige Meter neben dem Schulgebäude beträgt die Monatsmiete für einen Pkw mehr als 500 US-Dollar. Sublette besitzt kein Auto. Seit 1976 lebt er in New York. Er gehörte zur sogenannten Downtown-Szene, spielte unter anderem in der Band Love of Life Orchestra und hat Bücher verfasst, darunter ein Standardwerk zur Musikgeschichte Kubas. "Lange bevor es das Internet gab, lebten wir in New York das World Wide Web. Man konnte Ende Siebziger spielend von einer Realität in die nächste tauchen. Die meisten Künstler wohnten in Laufweite."
Mitte der Siebziger war New York bankrott. Musiker und Künstler eigneten sich Manhattan an, es gab bezahlbaren Wohnraum, Clubs und Galerien, alternative Medien und Radiosender. Mit Gelegenheitsarbeiten konnte man sich über Wasser halten. Die Produktivität jener Jahre ist Stoff für Legenden. Aus den Nischen von einst ist Weltkulturerbe geworden, nur sind viele der legendären Orte und Akteure schon lange vor 9/11 verschwunden.
Kein Sinn für Gemeinschaft
Heute fühlt sich Sublette in Manhattan unwohl. Der Sinn für Gemeinschaft sei den Bewohnern abhanden gekommen. Die Infrastruktur sei einzig auf Touristen zugeschnitten. In seiner Straße gäbe es keinen Supermarkt mehr, nur noch teure "High-end Healthy Food"-Boutiquen. Künstler müssten sich in Stadtrundfahrtbussen als Touristenführer durchschlagen.
Es sei verdammt schwer, als Angehöriger der Mittelklasse über die Runden zu kommen. Sublette hat keine Krankenversicherung. Stipendienaufenthalte von Universitäten helfen ihm, Bücher zu schreiben, und er schlägt sich als Gastdozent durch. Für den 11. September 2011 wünscht er sich am liebsten einen Hurrikan.
Mit 9/11 wurde die Transformation Manhattans unterbrochen. Aber seit einiger Zeit hat die Gentrifizierungsschraube wieder angezogen, der Markt für Immobilien boomt. Sublette vergleicht diesen Boom mit Kannibalismus, Denkmalschutz existiere praktisch nicht. Alte Gebäude werden abgerissen, um Platz für Neue zu schaffen. Im August wurde das Chelsea Hotel geschlossen. Das Gebäude ist verkauft, es soll abgerissen werden.
Mieten verteuerten sich drastisch
"Im Jahr 2011 ist New York für Künstler so unattraktiv wie nie zuvor." Menschen, die nach New York ziehen, blicken immer neidisch auf diejenigen, die dies schon zehn Jahre zuvor getan hätten, sagt der Musiker und Professor für Creative Writing, David Grubbs, weil sich Mieten in New York innerhalb eines Jahrzehnts drastisch verteuerten.
1999 war der 43-Jährige nach New York gezogen. Seither wohnt mit er mit seiner berufstätigen Frau und ihrem kleinen Sohn in Brooklyn; zunächst in Park Slope, inzwischen in Bedford-Stuyvesant, einem afroamerikanisch geprägten Viertel, in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Auch Queens ist zu einem Ausweichquartier für Kulturschaffende geworden, in Manhattan leben nur noch Reiche.
New York sei auch nach 9/11 kein heißes Pflaster für Patriotismus gewesen, so David Grubbs. In den nationalen Medien und im Rest des Landes sei dagegen Stimmung gegen Muslime gemacht worden. So ähnlich muss es in der Ära McCarthy gewesen sein, meint er. "Bereits Bushs Wahlsieg im November 2000 empfand ich als Tragödie, seine Wiederwahl 2004 war dann das größte politische Debakel, an das ich mich erinnern kann. Dass Bush und Cheney 9/11 als Begründung für den Krieg gegen Saddam ausgegeben haben, hat mich sprachlos gemacht."
Direkter Zusammenhang zwischen Außen- und Innenpolitik
Alle, mit denen ich in New York gesprochen habe, sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der US-Außen- und der Innenpolitik. Auch David Grubbs. "Es ist viel wichtiger für die USA, dass sie im Nahen und Mittleren Osten eine Politik macht, die dem Humanitären verpflichtet ist, als dass sie ihre Landesgrenzen abschirmt und Fluggäste mit besseren Scannern überprüft.
Durch 9/11 war unsere Stadt zum Anschlagsziel geworden. Auch ich war davon wie erstarrt. Und ich hatte den fatalistischen Gedanken, dass es jederzeit wieder passieren könnte. Das empfand ich weitaus gravierender als alle hastig eingeführten Sicherheitsmaßnahmen."
Grubbs Sohn besucht eine Schule, in der 90 Prozent der Schüler schwarz sind. Präsident Obama gilt als Vorbild für die Schüler, erzählt Grubbs. Sein Erfolg beflügele nicht nur die Schüler, sondern das ganze Land. An Obama stört Grubbs aber, dass er sich von den Republikanern zu viel bieten lasse.
Dem Jahrestag von 9/11 sieht Grubbs mit gemischten Gefühlen entgegen: "Der zehnte Jahrestag von 9/11 ist nicht zu vergleichen mit dem Gedenken an Pearl Harbour 1951. Damals war der Zweite Weltkrieg siegreich beendet, und unser Land war zur Normalität zurückgekehrt. Aber unsere Wirtschaft leidet an einem Trauma und politisch droht Stillstand, woran vor allem die Tea Party schuld ist. Es gibt nichts zu feiern, außer, dass es seit dem 11. September 2001 nicht noch weitere schwere Anschläge gegeben hat."
Von der üppigen zur zögerlichen Supermacht
Farai Chideya treffe ich in einem Großraumbüro im Dumbo-Viertel von Brooklyn, wo sie für die Kreativagentur ETSY als Beraterin tätig ist. Bekannt wurde Chideya aber als Journalistin. Sie hat vier US-Präsidentschaftswahlkämpfe journalistisch begleitet.
Auf die Frage, ob ihr Land mit 9/11 den Nimbus der Unverwundbarkeit verloren habe, antwortet die preisgekrönte Autorin: "Vor dem Terrorakt handelte die USA als üppige Supermacht, inzwischen sind wir so etwas wie eine zögerliche Supermacht geworden." Obama, sagt sie, sei viel stärker mit der Welt verbunden, als sein Vorgänger. Aber die Außenpolitik habe sich nicht grundlegend gewandelt.
"Wir geben immer noch immense Summen zur Bekämpfung des Terrorismus aus, was man etwa an der Aktion zur Erschießung bin Ladens sehen kann. Wir stecken tief im Morast der Kriege nach 9/11. Diese Engagements kosten Unsummen und bringen wenig für unsere Sicherheit." Auf den Jahrestag blickt sie mit Sorge. "Viel stärker als Ground Zero sorgt die Amerikaner die Situation am Arbeitsmarkt, die verloren gegangenen Jobs in Industrie und Handwerk. Wie die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen soll, wissen wir nicht."
Die 42-jährige Autorin ist eine Spezialistin für Sicherheitspolitik. Eingehend hat sie sich mit dem Thema Datenschutz befasst. Mit 9/11 kam das, was sie Bewusstsein für totale Information nennt. "Der Zugang zu Informationen sollte frei und unbegrenzt sein. Bei Beschränkungen wachsen meine Zweifel.Nach 9/11 hat die US-Regierung Unmengen von Personendaten gesammelt, zu denen nur bestimmte Behörden Zugang hatten", sagt Chideya.
"Neuorganisation der Sicherheitspolitik war übereilt"
Sie wisse nicht, wem die Arbeit des damals ins Leben gerufenen Ministeriums für Heimatschutz tatsächlich nutze. Für das Ministerium würden Untereinheiten arbeiten, die alles "von Grenzsicherung, über Abhöraktionen bis zur Einwanderung" unter dem Banner der nationalen Sicherheit koordinierten. "Diese Neuorganisation der Sicherheitspolitik nach 9/11 war übereilt, teuer und wenig überdacht, und sie warf viele juristischen Fragen auf."
Erleichterung habe er empfunden, als er von Osama bin Ladens Tod erfahren habe. Moustafa Bayoumi sagt, er fühle sich als Weltbürger. Der Professor für Englisch und Postcolonial Studies am Brooklyn City College wurde als Kind libanesischer Eltern in Zürich geboren und wuchs in Kanada auf.
Allein seine Existenz sei schon die Antithese zu Samuel Huntingtons "Kampf der Zivilisationen", dem auch die Islamisten anhängen. "Ich bin ein Mix aus Ost und West, und ich trage keinen Bürgerkrieg in meinem Körper", erklärt Bayoumi. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er für den Fernsehsender CNN und die Zeitschrift The Nation.
Ich treffe ihn in einem Café im Brooklyner Stadtteil Clinton Hill. Bayoumi spricht schnell, druckreif. Er wirkt diskussionserprobt, allerdings auch sehr vorsichtig. In den USA machte er Furore mit seinem Buch "How does it feel to be a problem. Being young and Arab in America", einer Chronik der Repression gegen junge arabische Amerikaner nach 9/11, ein Viertel davon Muslime, viele Christen, einige Juden, andere nicht religiös. Bayoumi selbst wurde muslimisch erzogen. Viele junge Arab-Americans seien nach 9/11 religiöser geworden. Er nicht. Religion sei bei ihm nie Thema gewesen. Er habe sich lieber intellektualisiert.
Schelchte Beziehungen unter der Bevölkerung
Anders als Amiri Baraka empfindet Bayoumi, dass sich in den letzten zehn Jahren die Beziehungen in den USA unter den Bevölkerungsgruppen verschlechtert hätten. Er zitiert den französischen Philosophen Etienne Balibar, der festgestellt habe, auch Rassismus sei Paradigmenwechseln unterworfen. In den USA seien Schwarze nicht mehr die Sündenböcke, diese Rolle müssten nun Latinos und Muslime spielen. 2002 hätten ein Drittel der US-Amerikaner Vorbehalte gegen Araber geäußert, 2010 wäre es mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
"Rassismus, der auf Hautfarbe basiert, wird heute sogar in rechten Kreisen als rückwärtsgewandt angesehen." Bayoumi spricht an Colleges und Universitäten und an liberalen Schulen, an anderen nicht. Die USA sind polarisiert, ein großes Problem, beiden Lager sprächen kaum miteinander. Bayoumi hat im August seinen US-Einbürgerungstest bestanden. Diesen Monat erhält er seine Staatsbürgerurkunde.
Mit dem Schriftsteller Rick Moody spreche ich auf einer Autofahrt durch Brooklyn. Eine Fahrt, vorbei an chassidischen Juden in Williamsburg, die aus einem Schulgebäude strömen, und Schwarzen in Clinton Hill, die auf einer Baustelle arbeiten.
Der 50-Jährige erinnert sich an eine Zeit vor 9/11, als das Leben in New York von Konflikten zwischen Klassen, Rassen, Religionen geprägt war. Diese Auseinandersetzungen gerieten mit den Anschlägen in den Hintergrund. "Es gab danach ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir New Yorker waren in Bezug auf die US-Außenpolitik nun exponierter als der Rest des Landes", befindet Moody. "Mit 9/11 verblasste der Mythos von der offenen Gesellschaft. Dafür sorgte Bush. Dass wir als Militärmacht unverwundbar sind, war auch nicht mehr haltbar. Aber das waren eher hässliche amerikanische Mythen als New Yorker Mythen."
Muslime waren bereits vor 9/11 nicht aus New York wegzudenken. Das Taxigewerbe und die Corner-Stores sind seit eh und je in arabisch-amerikanischer Hand. "In Queens ist es nicht verkehrt, wenn man Pandschabi oder Persisch versteht." Moody hat sich in seinen Werken nur am Rande mit den Auswirkungen von 9/11 beschäftigt. In dem Roman "Wassersucher" ließ er einen Richter am obersten Gericht den Satz "Menschenrechte sind etwas für Sklaven" sagen. In der Novelle "The Albertine Notes" stellte er ein traumatisiertes New York nach einem Neutronenbombenabwurf dar.
Zu wenig Kenntnis von den Nuancen
"Nach wie vor finde ich es schwierig, 9/11 fiktional darzustellen. Wir haben dafür noch zu wenig Kenntnis von seinen Nuancen. Es hat auch Jahrzehnte gedauert, bis der Vietnamkrieg packend in der Literatur dargestellt wurde. Viele Romane haben die Ereignisse um 9/11 nur ausgeschlachtet, das wurde sehr tendenziös, und das will ich vermeiden."
Moody glaubt, dass die anhaltende Rezession vor allem die untere Mittelklasse und die arbeitenden Armen treffen wird. Letztendlich würden die ethnischen Beziehungen davon in Mitleidenschaft gezogen. "Ich habe eine ambivalente Beziehung zum US-Marktkapitalismus." Der politische Apparat wurde nach 9/11 von einem einseitigen und unkontrollierbaren Kapitalismus mobilisiert. Der Rüstungskonzern Halliburton hat den Irakkrieg für sich genutzt, und die Bush-Regierung hat mit ihrem Katastrophenkapitalismus das Ölgeschäft dereguliert und das Kriegführen einer neoliberalen Logik unterzogen.
New Yorker meiden diesen Ort am liebsten. Zu sehr ist Ground Zero für sie mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Da, wo damals zwei von al-Qaida entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers gesteuert wurden und 3.000 Menschen töteten, klafft eine Lücke.
Schutt und Trümmer der eingestürzten Zwillingstürme sind lange beseitigt. Die Baulücke ist zur Touristenattraktion geworden, obwohl es nicht viel zu sehen gibt. An der Gedenkstätte in den Grundmauern wird noch fieberhaft gebaut, Zäune und Absperrungen verhindern den direkten Blick. Trotzdem sind die Straßen ringsum von Neugierigen gesäumt, die die Schautafeln studieren und die Bauarbeiten fotografieren und filmen.
Um die Ecke nutzt eine Demonstration von Angestellten des Telefonkonzerns Verizon die Aufmerksamkeit. Sie protestieren gegen Rentenkürzungen und haben sich in der Nähe des symbolträchtigen Ortes versammelt. Alle in roten T-Shirts, einige mit US-Flaggen. Ground Zero ist der einzige Ort in New York, an dem noch so etwas wie Patriotismus festzustellen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands