: Neues aus der Anstalt
KOMÖDIE Molières „Der eingebildete Kranke“ in einer hochkarätig-deftigen Inszenierung von Michael Thalheimer an der Berliner Schaubühne
von Katharina Granzin
Wie gut, dass alles abwaschbar ist. Die Bühne, die Olaf Altmann für Michael Thalheimers Version von Molières „Eingebildetem Kranken“ an der Berliner Schaubühne gebaut hat, ist ein beengter, vollständig weiß gefliester Kubus. Muss auch sein, denn gleich im ersten Auftritt als Argan schickt Peter Moltzen sich an, seine Umgebung einzusauen. Die wichtigsten Requisiten sind der Rollstuhl, in dem Argan meist sitzt, sowie zwei Plastikflaschen mit verschiedenfarbigem Inhalt, gelb und rot, deren Inhalt er großzügig über sich und seine Bühnenzelle verteilt.
Nachdem gleich zu Beginn die Ekelgrenze überschritten wird – Moltzen legt einen furiosen Auftakt hin mit viel Gekotze, Gestöhne und Gespucke, ist man bereit, praktisch alles als verständliche menschliche Lebensäußerung hinzunehmen. Auch dass Regine Zimmermann als Dienerin Toinette eine vollgeschissene Windel unter Argan hervorzieht, an deren erschreckend realistisch gefärbtem Inhalt sie heimlich riechen und schmecken wird, scheint gar nicht mehr abwegig. Dass Thalheimer jene Szene, in der die selbstbewusste Toinette als verkleideter Arzt auftritt, umdeutet als Gelegenheit zu Analsex zwischen Herr und Dienerin, ist da nur folgerichtig.
Drastik als Groteske
So viel Drastik wäre schwer auszuhalten, wäre sie nicht richtig verpackt. Thalheimer nimmt die Albernheiten der Komödienvorlage mit großer Spielfreude auf, wendet die Komik dabei aber konsequent ins Groteske. Das erstreckt sich auch auf die Optik – also Kostüme und Maske. Verfremdete Details historischer Verkleidungen (hier eine staubige Molière-Perücke, da das Gerüstunterteil eines Reifrocks), Nacktkostüme (Jule Böwe muss ein Kleid mit aufgemaltem Busen tragen), grob mit Schminke zugekleisterte Gesichter: Das alles formiert sich zu einem hochkarätigen Ensemble des Grauens.
Zwar mag Argans Lage tatsächlich ernst sein; immerhin ist er ein neurotischer, vielleicht sogar psychotischer Charakter, der mit Sicherheit leidet, wenn auch nicht an den Krankheiten, die er sich einbildet. Absolut lachhaft aber ist das Gewese, das um dieses Leiden herum entsteht. Während Argans junge Frau Béline (Jule Böwe) übertrieben besorgt um ihn herumscharwenzelt, aber nur darauf aus ist, ihn zu beerben, geht Argans Ichbezogenheit so weit, seine Tochter Angélique (Alina Stiegler) unbedingt mit einem Arzt verheiraten zu wollen, obwohl die junge Dame andere Pläne hat. So hält ein lächerliches Vater-Sohn-Ärztepaar (Ulrich Hoppe, Renato Schuch), einer dümmer als der andere, zur Brautschau Einzug, während gleichzeitig Angéliques wahrer Auserwählter (Felix Römer) der Geliebten incognito seine Aufwartung macht – als Gesangslehrer getarnt. Thalheimer inszeniert es als Gipfeltreffen armseliger Tröpfe, wobei ihm toll choreografierte Ensembleszenen von hochkomischer Absurdität gelingen. Während im Hintergrund unablässig ein minimalistisches Ostinato in Dauerschleife orgelt, formieren sich in der Bühnenzelle – die nur aufgehängt ist und sich für jeden neuen Auftritt aus ihrer Senkrechtachse in die Schräglage verschieben lässt – aus dem ursprünglich Molière’schen Text rhythmisierte Sprechgesänge mit Bewegungselementen, mit Zuck-, Spuck- und Ächzreflexen versetzt. Dass dem Sohn-Arzt Thomas Diafoirus auch noch ein Tourette-Syndrom verpasst wurde, mag den Prinzipien der ethischen Korrektheit widersprechen, ist aber witzig. Und überhaupt ist dies eben ein Stück, in dem Krankheit lächerlich gemacht wird.
Voll die Mumie
Einen echten Kranken als ironischen Kontrast zu Argans eingebildeter Gebrechlichkeit gibt es auch: Argans Bruder Béralde, gespielt von Kay Bartholomäus Schulze, was man aber nicht sehen kann, da er so umfassend bandagiert auftritt, als sei er leibhaftig dem Horrorfilm „Die Mumie“ entstiegen. Aus geheimen Öffnungen strömt Theaterblut an ihm herunter. Dennoch wird es nicht Béralde sein, der stirbt, während die Bühnenmusik sich zu einem pathetischen E-Gitarren-Finale aufschwingt, bei dem Neil Youngs „Dead Man“-Soundtrack evoziert wird. Während Thalheimer sich, bei allen Kürzungen, ansonsten treu an Molières Ablaufplan gehalten hat, denkt er sich kurzerhand einen eigenen Schluss aus. Das geht im Prinzip in Ordnung, da Molière selbst es irgendwie vermieden hat, für sein Stück ein richtiges Ende zu schreiben. Aus gutem Grund; denn eine eiserne Regel sieht immerhin vor, dass eine Komödie glücklich enden muss. Aber wie könnte Argan je glücklich sein?
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