Neues Werk von Peter Handke: Stillleben mit faulen Früchten
Der unglückliche Griff nach dem Epos: In Peter Handkes Spätwerk „Die Obstdiebin“ geht es um ein Genießen der Welt ohne Besitzergreifung.
Die Form des Romans befindet sich schon seit Langem in der Krise, auch wenn der Buchmarkt nach wie vor von Romanen überschwemmt wird. Auch Peter Handke ist sich dessen bewusst und hat darum schon vor vielen Jahren sein Ideal eines Erzählens einmal wie folgt umrissen: „Ein Epos aus Haikus, die sich dabei aber keinesfalls als solche Einzeldinge bemerkbar machen, ohne Handlung, ohne Intrige, ohne Dramatik und doch erzählend: das schwebt mir vor als das Höchste.“
Zwar soll es für ihn noch einmal ein Epos geben, aber keine Spannungsbögen und Entwicklungen mehr, um – wie im japanischen Haiku – blitzartig sich einstellende Evokationen festzuhalten und sie, nach wie vor erzählend, aneinanderzureihen. Mit diesem Programm wandelt Handke auf den Spuren seines großen österreichischen Vorläufers Heimito von Doderer. Der Autor von Romanen wie die „Strudlhofstiege“ hat dies meisterhaft vorexerziert, indem er in seinem breiten Erzählstrom immer wieder ein Innehalten suchte, um fein ziselierte Bilder zu entwerfen, wodurch er poetisches Stillestehen und narrative Bewegung verbinden konnte.
Mit seinem soeben erschienenen Spätwerk „Die Obstdiebin“ hat Handke dieses Projekt nun weiterverfolgt und auszugestalten versucht. Das Buch trägt konsequenterweise keine Gattungsbezeichnung, hat sich vom Roman entfernt und besteht aus einer langen Reihe voneinander abgesetzter Abschnitte. Aus der Niemandsbucht – einem Pariser Vorort, in dem er bekanntlich lebt – unternimmt der Schriftsteller einen Marsch in die Picardie, wo er ein Anwesen besitzt. Es spaltet sich dabei in ein Alter Ego auf, seine Tochter, die auf ihrer Reise die dichterischen Ideen des Vaters umsetzen möchte.
Sie ist die Obstdiebin, auch Alexia genannt. Sie pflückt im Vorübergehen leidenschaftlich gern Äpfel, Birnen oder Beeren aus fremden Gärten, ohne sich dabei aber einer Gesetzesübertretung bewusst zu sein. Stehlen will sie nicht, sondern sich eine Wirklichkeit aneignen, die sich ihr freiwillig schenkt. Es geht um ein Genießen der Welt ohne Besitzergreifung. Der Diebstahl, der keiner ist, symbolisiert jene Schwebe, um die dem Autor zu tun ist und die er tatsächlich immer wieder auch zu erzeugen vermag.
Die junge Frau, die, wie der Vater, gut zu Fuß ist, übernachtet einmal in einem der französischen Städtchen, durch die sie auf der Suche nach der bedeutenden Wahrnehmung kommt. Sie sitzt bei geöffnetem Fenster und schaut in den nächtlichen Sternenhimmel. Ihr Vater hatte ihr zwar in der Kindheit beigebracht, einzelne Sternbilder wie den Großen Bären oder Kassiopeia zu erkennen, aber sie lehnt derlei willkürliche Konstruktionen des menschlichen Geistes ab und will sich ohne diese den Eindrücken stellen.
Arrogant und erschütternd blind
Sie ist bereit, sich dem Ungeordneten, Chaotischen zu öffnen, um auf diese Weise statt ordnender Konstrukte die beglückende Erfahrung einer Gestimmtheit zu machen, in der sie sich vom Universum freundlich gegrüßt weiß. Jetzt erst kann ein Ganzes in Erscheinung treten, dem die alte Metaphysik vergeblich nachgelaufen war, weil sie noch den Begriff suchte statt poetischer Anschauung.
Übel muss uns indessen aufstoßen, dass trotz aller gewollten, zum Teil auch praktizierten Versöhnlichkeit doch auch viel Verachtung für die Masse der Menschen, die angeblich schon von Geburt an stumpf und zu bedeutender Empfindung nicht fähig sei, zum Ausdruck gelangt. Das ist arrogant und selbst erschütternd blind. Da werden die Leser, vom sicher geglaubten Olymp herab, wie tumbe Klippschüler behandelt, denen der Autor vergeblich etwas einzutrichtern sucht.
Der Grundfehler dieses Opus ist jedoch formaler Art und besteht in dem Ehrgeiz, noch einmal ein Epos schaffen zu wollen. Doderer war dazu noch in der Lage; für Handke ist es dagegen mittlerweile zu spät. Das literarische Urmotiv von Fahrt und Wanderung ist herrlich, wird hier aber derart stilisiert, dass seine Ausführung letztendlich zu faulem Budenzauber gerät.
Abgesehen von einer Handvoll gelungener Sätze – dass der Autor das kann, hat er ja oft genug bewiesen – tut er sich seitenlang wichtig, ohne den Absprung in die Knappheit zu finden, der doch einzig jener Prosasatz gelingen könnte, welcher die poetische Wahrnehmung tatsächlich beredt zu machen verstünde.
Peter Handke: „Die Obstdiebin“. Suhrkamp, Berlin 2017, 559 Seiten, 34 Euro
Der Griff nach dem Epos – ein Griff in die literarhistorische Mottenkiste – macht dieses Schreiben flügellahm. Man fragt sich, ob das die Darstellung reiner Gegenwärtigkeit, gar ein Durchbruch zu Mystik sein soll, wenn der Autor die eigene Begriffsstutzigkeit einer ausdauernden Zelebration für würdig erachtet. Das angestrebte Haiku bringt er auf diese Weise nicht zustande. Er klappert die Wirklichkeit ab und findet nur allzu selten zu einer Erleuchtung.
Man lese in dem Buch, ärgere sich gründlich und fühle sich dennoch ermuntert zu einem weiter werdenden Sinn. Der Rezensent greift unterdessen lieber wieder auf Handkes Journale wie „Das Gewicht der Welt“ oder „Die Geschichte des Bleistifts“ zurück, die vom Anspruch des Epos frei sind und ihn vor vielen Jahren schon getröstet und animiert haben.
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