Neues "TV on the Radio"-Album: Schwarze Seele schockgefrostet
Auf ihrem neuen Album "Dear Science" machen TV on the Radio aus Elektrobeats Progrock und überführen Bowie-Schmachtgesang in Marchingband-Rhythmen.
Das Quintett aus Brooklyn hat nach ausgedehnten Touraktivitäten ein sechsmonatiges Sabbatical genommen, um Songs zu schreiben, die dann im Studio ihres Bandmitglieds Dave Sitek aufgenommen werden sollten. Die Rede war von 26 Songs, 11 haben es schließlich auf "Dear Science" geschafft. Klappt man das Albumcover auf, sieht man die Band als Exzellenzcluster in einem Labor. "Laser in Use" steht auf einem Schild, Laserstrahlen durchdringen den Raum, und die fünf Musiker stehen oder sitzen neben Reagenzgläsern, Schubladen und Petrischalen. Drei von fünf Bandmitgliedern tragen Brille. Experiment, sagt das Foto, ohne Ausrufezeichen.
In den elf Songs von "Dear Science" gibt es keine Wiederholungen, es fehlen offensichtliche Hooklines und schlaumeierische Kabinettstückchen. Die Band tritt als Einheit auf. Es fängt mit der Banddemokratie an und hört nicht beim Instrumententausch auf. Jedes Bandmitglied komponiert auf den Instrumenten des jeweils anderen. Man wollte tanzbare Musik machen, so die Ausgangsüberlegung. Tanzbare Musik, bevor man von einer Klippe springt, ergänzt Sänger Tunde Adebimpe. "Du schreist los, und dann wird dir bewusst, dass es eine sehr hohe Klippe ist. Also schreist du noch mal und beim dritten Mal stellst du fest, offenbar ist die Apokalypse nicht so gewaltig und leuchtend orange, wie du dachtest. Vielleicht solltest du doch noch die Miete zahlen."
Sich selbst haben TVOTR in der Laborsituation absichtlich unter Druck gesetzt, um diesen Druck in reinen Klang umzuwandeln. Obligatorisch ist hier gar nichts, die Songs entstehen fakultativ. "Dear Science" schafft den Spagat zwischen lebensnahem Zeigefinger-Idealismus ("In my mind/ Im breeding butterflies") und messerscharfen Gitarrenriffs, räumlich nahe klingenden Gesangslinien und hartnäckigem Hall-auf-den-Drums-Gothic. Da werden Melodien gepfiffen, Tempohaken geschlagen und halsbrecherisch runtergebremst.
Der gute alte New Wave bekommt hier eine schwarze Seele, und der Blues wird am Mischpult schockgefrostet. Als Jugendlicher hätte er immer Joy Division gehört, sagt Gitarrist Kyp Malone, ihm sei diese Musik aber nicht düster und pathetisch vorgekommen, eher wie ein Energydrink.
TVOTR sind Meister des Stimmungsumschwungs. Sie verwischen Genrespuren, machen aus Elektro-Dancebeats galoppierenden Progrock und überführen Bowie-Schmachtfetzen-Gesang in Marchingband-Rhythmen. Dave Sitek erklärt diese Arbeitsweise mit der Wirkung von Magic Mushrooms: "Eben hast du noch eine paar Telefonate geführt, im nächsten Moment feierst du schon mit deinen Vorfahren." TVOTR feiern diesen körperlichen und seelischen Ausnahmezustand nicht, sie setzen sich einfach darüber hinweg. Ob sie Angst vor dem Ende der Musikindustrie hätten, wurde TVOTR-Gitarrist Kyp Malone gefragt. "Nein, in Zukunft werden wir wieder lernen müssen, wie man Gemüse im eigenen Garten anbaut. Oder besser, wir müssen uns mehr anstrengen, damit die Leute uns von ihrem Gemüse etwas abgeben." Zurück-in-die-Zukunft-Angst befördert bei TVOTR den Willen zum Experiment.
Zudem gibt es ein Leben jenseits der Musik. Adebimpe arbeitet auch als Schauspieler und wirkt in einem neuen Film von Jonathan Demme mit. Und Sitek ist inzwischen ein begehrter Produzent, den auch die schwierigsten Fälle nicht schrecken. So stand er für das Album von Scarlett Johansson hinter den Reglern. Sehr geehrte Naturwissenschaft, TV On The Radio sind an der Wahrung und Schöpfung der Kunst herausragend beteiligt, so dass schon deshalb der Kampf, den sie um ihre Existenz führen, allgemeine Aufmerksamkeit verdient.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu