Neues Buch von Rachel Cusk: Das Prinzip Überholspur
Rachel Cusk denkt über Autos, Ehen und Eltern nach. Wer von Texten erwartet, das sie einen auf eigene Gedanken bringen, wird „Coventry“ schätzen.
Rachel Cusk ist hierzulande bekannt geworden durch ihre autofiktionalen Prosabücher, die man bisweilen mit Knausgårds Romanen verglichen hat. Sie hat ihr Dasein als Mutter unerbittlich ausgeleuchtet, die Trennung von ihrem Mann literarisch auseinandergenommen und in der ambitionierten „Outline“-Romantrilogie ihr intellektuelles Leben als Schriftstellerin gewissermaßen ex negativo beschrieben, indem sie die Erzählerin zum bloßen Hallraum der mit ihr in Kontakt tretenden Protagonisten macht.
Erzählung und Reflexion sind komplementäre Kräfte ihres Schreibens, das zeigt nun auch ihr Essayband „Coventry“, der sechs längere Denkstücke versammelt. Die literaturkritischen Gelegenheitsarbeiten des englischen Originals hat der deutsche Verlag auf ihr Geheiß separiert. Das mag man bedauern, aber so gewinnt der Band an Kohärenz, denn die verbliebenen Essays sind allesamt Bruchstücke einer Phänomenologie des Alltags.
Cusk schreibt über die Pubertät als Zeit der Abrechnung mit der Elterngeneration; den Sinn und Zweck von Unhöflichkeit, nicht zuletzt „als Schranke vor dem Handeln“, das schlimmere Konsequenzen zeitigen könnte; oder über die Wohnung als Ort weiblicher Utopie, in der sich also manifestiert, wie sich Frauen die Einrichtung dieser Welt erträumen.
Im Titelessay „Coventry“ analysiert sie die Machtstrategien ihrer Eltern, die sie immer wieder mit wochenlangem Schweigen bestrafen – im Englischen gibt es dafür die Redewendung: jemanden nach Coventry schicken –, bis sie sich irgendwann für die Freiheit entscheidet und beschließt, „für immer in Coventry zu bleiben und das Beste daraus zu machen“.
Rachel Cusk: „Coventry“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp, Berlin 2022, 160 Seiten, 21 Euro
Der behände und elegante Wechsel zwischen Narration und Reflexion macht die Qualität dieser Texte aus. Cusk beginnt meist im Anekdotischen und lässt das dann aphoristisch leuchten, etwa indem sie ihre Alltagsbeobachtungen mit Lektüre- und Bildungsfrüchten abgleicht oder sie in Beziehung setzt zur politischen Großwetterlage. Es ist das aufgeklärte Ideal des gelehrten Witzes, das hier zur Anwendung kommt.
Aushöhlung des Konsenses
Dabei macht sie aufschlussreiche Beobachtungen. In „Autofahren als Metapher“ etwa bemerkt sie, dass „in Großbritannien die Überholspur der Autobahn zunehmend von Langsamfahrern besetzt“ wird, „während die beiden anderen Spuren mehr oder weniger leer bleiben“. Offenbar sehen sich mittlerweile alle auf der Überholspur, und das hat Folgen. Die „Korrumpierung des Prinzips Überholspur“ nämlich, die zwangsläufig zur „Aushöhlung des Konsenses“ führt.
Man überholt jetzt einfach auf den anderen Fahrspuren, das Recht des Schnelleren triumphiert über die Straßenverkehrsordnung. Auch das sagt vielleicht etwas aus über das zeitgenössische Großbritannien.
Analytische Klarheit und gedankliche Stringenz hingegen gehören nicht unbedingt zu ihren Tugenden. Sie erschreibt sich ein Thema, assoziativ und im Vertrauen auf ihre produktive Fantasie, die ihr immer wieder eine neue gedankliche Abzweigung weist. Das sorgt mitunter dafür, dass man angesichts der Vielzahl und Vielfalt der Gedanken den roten Faden aus den Augen verliert und nach der Lektüre nicht so leicht rekapitulieren kann, was man da gerade gelesen hat.
Intellektueller Gewinn
Ein solches additives Verfahren, das kommt noch hinzu, hat auch schon mal Längen. Aber wenn man die Qualität von Texten danach bemisst, ob sie den Leser auf eigene Gedanke bringen, dann besitzen Cusks Essays durchaus ihre Vorzüge. Gerade auch, wenn sie zum Widerspruch herausfordern. Man muss nicht mit ihr einer Meinung sein, um intellektuellen Gewinn aus der Lektüre zu ziehen.
In „Danach“ etwa, einer essayistischen Vorstudie zu ihrem gleichnamigen Trennungsbuch, beklagt sie sich bitterlich, voller Selbstgerechtigkeit, über ihre Ehe, in der sie Mutter und Ernährerin zugleich gewesen ist, übersieht dabei aber den Beitrag ihres Mannes, der immerhin seine Anwaltskarriere aufgegeben hat, um die Kinder großzuziehen. „Einmal beichtete mir eine Freundin, sie bewundere unseren Lebensstil, wäre selbst aber nie dazu fähig. Sie nannte mir auch den Grund: Sie könne ihren Mann, sollte er sich in eine Ehefrau verwandeln, nicht mehr respektieren. Wir waren also bewundernswert – ich, weil ich keinen Mann brauchte, und er, weil er bereit war, kein Mann zu sein.“ In ihrer Verletztheit will sie sein Opfer einfach nicht anerkennen.
Sie merkt, dass „die Spannungen der alten Orthodoxie unter der umgestalteten Oberfläche der Dinge“ weiterwirken, und räumt indirekt ein, dem traditionellen Frauen- und Mutterbild näher zu sein, als sie es sich eingestehen mag. Aber sie kann einfach nicht raus aus ihrer Haut. Cusk weiß, dass sie hier nicht sympathisch rüberkommt, und lässt es trotzdem geschehen. Das ist ehrlich und mutig. Und hat ihr viel Kritik eingebracht. Aber es sind vermutlich solche waghalsigen Texte mit weit offener Flanke, die eine Diskussion voranbringen.
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