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Neues Buch von Aslı ErdoğanSchreiben ohne Angst vor Abgründen

Sie haben sie ins Gefängnis gebracht: Die schonungslosen Kolumnen der türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan liegen nun endlich auf Deutsch vor.

Foto: Random House

Aslı Erdoğan ist schonungslos. Und zwar zuallererst sich selbst gegenüber. Die türkische Schriftstellerin, die im Ausland stets mehr gehört und gelesen wurde als in ihrer Heimat, befand sich viele Jahre auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Sie lebte in Genf, um als Kernphysikerin am Cern-Institut zu forschen. Sie zog nach Rio de Janeiro, um ihre Doktorarbeit abzubrechen und sich voll und ganz der Literatur zu widmen.

Doch ausgerechnet in den letzten Jahren, die wohl eines der dunkelsten Kapitel der türkischen Geschichte darstellen, blieb sie in der Türkei. Um den Abgründen nachzuspüren, die sich in dem porösen Boden eines zunehmend repressiven Staats öffnen. Um über sie zu schreiben, ohne Angst, selbst in ihnen verloren zu gehen.

Ihre Beobachtungen, die von Gräueltaten während der Ausgangssperren in den kurdischen Gebieten (2015–2016) bis hin zur Putschnacht in Istanbul (Juli 2016) reichen, schrieb sie in Form von essayistischen Kolumnen für die inzwischen verbotene prokurdische Zeitung Özgür Gündem auf. Als Mitherausgeberin wurde sie im vergangenen Sommer im Rahmen der Razzien gegen Oppositionelle verhaftet und kam erst über vier Monate später unter Auflagen frei. Nun erscheinen die Kolumnen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung.

Was Erdoğans Schriften so gefährlich macht

Fatma Aydemir

Autorin & Journalistin. Jahrgang 1986, Studium der Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt/Main und San Diego, CA. Seit 2012 Redakteurin bei der taz. Anfang 2017 erschien ihr Debütroman "Ellbogen" (Hanser).

Erdoğans Schonungslosigkeit offenbart sich aber viel mehr noch in ihren Texten. „Kann ich davon ausgehen, dass ich den Opfern, über die ich schreibe oder schweige, überhaupt gerecht werde?“, fragt die Autorin sich einmal. „Wenn ich versuche, in ihrem Schmerz den Schmerz der Menschheit zur Sprache zu bringen, kann ich behaupten, zu wissen, was genau es ist, das ich ihren Schmerzen gegenüber einfordere – Empathie, Respekt, Gerechtigkeit, was auch immer?“

Noch bevor Erdoğan die sie umgebende Welt mit kritischem Blick seziert, konfrontiert sie stets den Zweifel an ihrer eigenen Rolle. Und vielleicht ist es das, was ihre Schriften so gefährlich macht. Das Gefühl bei Leser*innen, dass hier jemand Ehrlichkeit will um jeden Preis.

Gleich sechs Über­set­ze­r*in­nen arbeiteten an dem Sammelband „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, dessen türkische Originalversion bisher nicht erscheinen konnte. Warum, das wird allen verständlich, die nur ein paar Seiten aus dem Buch lesen und ein bisschen mitbekommen haben, wie es heute um die Meinungsfreiheit in der Türkei steht.

Der Glanz der Unnachgiebigkeit

Verkohlte Kieferknochen von 12-Jährigen, Menschen, die bei lebendigem Leib in Kellern verbrannt werden – Aslı Erdoğan scheut kein schreckliches Bild, das die Massaker an der kurdischen Bevölkerung anschaulich macht. Und doch bleibt sie stets Schriftstellerin, berichtet nie als Reporterin.

Erörtet den Faschismusbegriff, meditiert im Regen vor einem Wellensittich im Pet-Shop-Schaufenster, betrachtet das „Trümmerfeld“, zu dem das Gedächtnis eines Vielvölkerstaats geworden ist, der keiner sein will: „Wenn wir aus einer schreieri­schen Feind­se­lig­keit he­raus, […] in der ‚Ge­schich­te‘ nur die Spu­ren ver­gan­ge­ner ­Grö­ße su­chen, man­gelt es uns auf ent­setz­­liche Weise an Mit­ge­fühl da­für, was Men­schen er­lebt und er­lit­ten ha­ben.“

Dass der Glanz von Erdoğans Texten unmittelbar mit der von ihr forcierten Unnachgiebigkeit zusammenhängt, offenbart sich gleich am Anfang des Buchs, wo sie von der turbulenten blutigen Nacht zum 15. Juli 2016 erzählt. Auf die Nachricht von dem Putsch hin begibt sie sich schnell nach Hause, um dort festzustellen, dass sie eigentlich draußen sein will. Sie läuft den Schussgeräuschen hinterher, bis sie schweigend und im blauen Kleid „Am Fuß einer Mauer“ kauert, wo nichts mehr ist, was „das Gestorbensein noch vom Nichtgestorbensein trennen würde“.

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