Neues Album von Orielles: Besser träumen dank Glockenstimmen
Das nordenglische Trio Orielles aktualisiert mit seinem neuen Doppelalbum „Tableau“ sehr elegant und wenig ehrfürchtig Shoegaze für die Tanzfläche.
Verblassende Farben auf alten Bildern. Selbstporträts im Spiegel, überstrahlt von der Reflexion des Blitzes. Wären sie in der Ära der Analogfotografie aufgewachsen, sähen wir die Orielles vielleicht so auf ihrem ersten Bandphoto. Erzählt man doch, die britischen Schwestern Esmé und Sidonie Hand-Halford hätten sich mit Henry Carlyle Wade in sehr jungem Alter auf einer Teenieparty zusammengetan, Musikfans, von denen niemand ein Instrument spielte.
Ziemlich sicher waren sie noch Teenager, als 2018 ihr Debütalbum die vor rund 30 Jahre entstandene Ideen des groovenden „Madchester“ Pop-Rock leichtfüßig und elegant neudachte. Im Jahr darauf kündete das Zweitwerk von vertiefter rhythmischer Finesse: Jez Kerr von der Factory-Band A Certain Ratio hatte ihnen das Konzept des Raumes im Groove nahegebracht, derweil die Lektüre Milan Kunderas die Songtexte inspirierte.
Nun, drei lange Jahre später, rattert ein Transeuropa-Express über stählernen Schienen hinein in eine sphärische Nachtfahrt. Doch abrupt stürzt der experimentelle Auftakt in raue Gitarrenriffs, reminisziert gleich zwei Erscheinungen von britischem Underground-Pop-Rock: Gemeinsam mit der verhallten Zartheit des Gesangs vernimmt das Ohr ein Echo der „Shoegaze“ genannten Gitarrenmusik, die um 1990 kurz erblühte und bis heute immer wieder versucht wird.
Schöner Pop mit rüdem Feedback
In ihr sollte die Schönheit klassischer Popmelodien, mit rüden Feedbackgitarren gekontert, ein Schweben erzeugen, nur um sich oft den Kopf an den rigiden Vorgaben des Velvet-Underground-Stilbuchs zu stoßen oder an der vom Feedback kaum kaschierten Einfallslosigkeit.
Orielles: „Tableau“ (Heavenly/PIAS)
Beide Effekte beengen ebenso die ästhetischen Möglichkeiten des einst zeitgleich entstandenen und gleichfalls längst untoten Dream-Pop, dessen Pose melancholischer Unschuld allzu oft die Transformation von Träumen in Klang mit einer Musik verwechselt, zu der man gut einschlafen kann.
Konsterniert ob des Gedankens, musikalische Hoffnungsträger an Indie-Mittelmaß zu verlieren, breche ich bereits mitten im Song ab. Wochen später, ermahnend bezirzt vom verwaschenen Foto der Plattenhülle und ihrer Typografie, folgt ein zweiter Versuch, nun im Auto. Hier bemerke ich gesampelte und gemorphte Stimmen im Gitarrenstück und eine unbekannte, verzaubernde Energie.
Zusehends auf den Dancefloor
Beherzt missachten die Orielles stilistische Beschränkungen. Hihats geleiten nahtlos in den komplexen Rhythmus von „Airtight“ und während es sich zusehends in ein Tanzstück verwandelt, schwelgt der Autor, nur noch eingeschränkt fahrtüchtig. Singt Esmé da nicht gar glasglockengleich „Rock your body“?
Nein, es heißt „That the body“ und sie fährt fort: „Knows the heat will come – faint, slow, growing, drifting the memory remember…“ – Driftend durch ein Kaleidoskop aus Milchigweiß- und Grautönen, fließen die subtilen Songs ineinander, in ausgedehnten Fade-Outs, zwischen kreisenden Gitarren, synthetischen Sounds und immer neuen Synkopen entstehen komplexe Formen, inspiriert von den grafischen, Galeriewände schmückenden, Notierungstechniken des US-Avantgarde-Jazztrompeters Wadada Leo Smith.
„Improvisation 001“ streift schlafwandelnd durch den Wildwuchs unbekannter Felder, welche die späten Grateful Dead gemeinsam mit Edie Brickell aufsuchen wollten und nicht zu finden vermochten. Kein Stück dieses Doppelalbums ist zu lang, im Gegenteil – nach Wochen erschließen sich immer noch neue Details. In „Beams“ erklingen Analogien zu den Überblendungen aus Derek Jarmans Super-8-Film-Experimenten, derweil die Worte der Traummusik ein verletztes Herz umsorgen. „Till' the seasons reveal – Something true, something real“.
Was für ein Wunderwerk! Mit ihnen und Jockstrap deutet das Jahr 2022 auf einen Aufbruch im Pop. Die Orielles erblicken das Licht der Sterne in Scherben der Vergangenheit. Alte Stile retten? – Nein, es gilt sie zu verbessern! Neues entsteht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!