Neues Album von Kae Tempest: Die Geschichte eines gestrichenen Buchstabens
Der Brite Kae Tempest dokumentiert mit „Self Titled“ eine mutige musikalische und biografische Transformation. Weniger Spoken Word, mehr Gesamtkunstwerk.

Ein Barbershop als Tor zur Erkenntnis: Im Musikvideo zum pulsierend-treibenden Dancefloor-Smasher „Know Yourself“, Single-Vorbotin des neuen Albums „Self Titled“, lassen sich Kae Tempest und seine Buddies militärisch anmutende Undercuts verpassen, manche rasieren gleich den ganzen Kopf.
Doch zum Songfinale verwandelt sich dieser Friseursalon in einen entgrenzten Mini-Rave, der Raum für alle Varianten von Queerness bietet. Passend dazu bietet der Song Pet-Shop-Boys-Sänger Neil Tennant als Gaststar – auch wenn dessen konkreter Beitrag sich schwer aus der Musik heraushören lässt.
Zwischendurch spricht Tempest – aus einer Zeit heraus, bevor er das T aus seinem Vornamen gestrichen hatte – mit wallendem Haar aus einem Fernseher in dem Raum: „If you saw the younger you, what would you say to them? I would say – thanks. I would say – peace. I’d tell them – soon child, you are going to find release.“ Es steckt eine Menge drin im erstaunlich bunten Pop-Reigen, den Tempest mit dem neuen Album aufspannt.
Immersive Texte
„I am telling myself what I need to hear“ (Ich erzähle mir selbst, was ich hören muss), so beschreibt der Spoken-Word-Künstler im BBC-Porträt „Being Kae Tempest“ (2023), was ihn antreibt. Auf dem neuen Album geschieht das in Form von immersiven Texten, die in Gefühlswelten abtauchen – eingebettet in zugängliche, oft euphorische Tracks.
Kae Tempest: „Self Titled“ (Island/Universal); Tour im November 2025
Als besagte BBC-Doku erschien, war gerade das Vorgängeralbum „A Line Is a Curve“ (2022) veröffentlicht worden: ein Album, welches das Elliptische, das Umherkreisen schon im Titel trug. Und auch musikalisch ein Plädoyer fürs Loslassen war – sich dem ergeben, was das Leben anspült.
Anders als auf früheren Werken, mit denen Tempest vor allem die Verwerfungen ausleuchtete, die der Spätkapitalismus in den Alltag ihrer meist urbanen Protagonist:Innen trug, schlaglichtartig, aber mit viel Empathie, richtet die Musik einen Blick diesmal nach innen. Kein Wunder, liegen doch bewegte Jahre hinter Kae Tempest: eine Trans-Formation im engsten Wortsinn.
Einen Namen machen bei Poetry-Slams
Die musikalische Sozialisation erlebte der heute 39-Jährige mit HipHop; Ende der nuller Jahre macht sich Tempest auf Poetry-Slams einen Namen. Der Erfolg setzte 2014 mit dem Mercury-Prize-nominierten Album „Everybody Down“ ein. Für das Langgedicht „Brand New Ancients“ („Brandneue Klassiker“) war Tempest da schon mit den Ted-Hughes-Award ausgezeichnet worden, dem renommierten Lyrikpreis der britischen Poetry-Society.
Leidenschaft für Sprache gießt Tempest bis heute nicht nur in Spoken-Word-Performances, sondern auch in Lyrik, Theaterstücke und Essays. Einen ziemlich guten Roman hat Tempest mit „Worauf du dich verlassen kannst“ (2016“) außerdem publiziert.
An Anerkennung und Aufmerksamkeit mangelte es also nicht, trotzdem ging es Tempest zunehmend schlecht: Die Tour zu „The Book of Traps and Lessons“ (2019) war begleitet von Panikattacken. Ein queeres Outing verschaffte Erleichterung – und war trotzdem nur ein Anfang. 2020 positionierte Tempest sich als nonbinär, zunächst mit dem im Deutschen ungelenk wirkenden Personalpronomen „them/they“. Dieses Jahr folgte das Outing als trans Mann.
Enorm produktiv
Diese Entwicklung wird – außer in der BBC-Doku – auch in den Songs der beiden Alben geschildert: Etwa im vergnügt-flummiartigen „Diagnoses“, ein Lied, das von Tempests Geschlechtsdysphorie, Suchtproblemen und ADHS handelt – Letzteres zweifellos ein Aspekt von enormer Produktivität. In diesem Gehirn schlagen Worte tatsächlich Funken.
Auf der Liste der Diagnosen stehen zudem verschiedene Themen, die Tempests Freundin mit in die Beziehung gebracht hat: „Overwhelmed and over-diagnosed and overexposed“ seien die beiden. Aber: „I’d be more worried if we weren’t disturbed.“ Wie war das noch mit dem richtigen Leben im falschen?
Tempests Textkaskaden fließen dicht wie eh und je, getragen von einer durch Hormontherapie tieferen Stimme und demonstrativerem HipHop-Swagger. Die rauere Energie und ein entspannterer, ausgelassener Gesamteindruck lassen sich aber wohl nicht nur auf physische Veränderungen zurückführen, sondern auch auf den Umstand, dass Tempest die Predigerpose, die etwa den Hit „Europe Is Lost“ (2016) prägte, bei den neuen Songs deutlich zurückgefahren hat.
Sprödes trockenes Brot
Der Song ist zwar durchaus pointierte Zeitdiagnose, die trefflich vieles beschreibt, was seither noch schlimmer geworden ist – und nervt doch bisweilen auch mit spröder Trockenbrothaftigkeit. Welterklärung, wenn auch nur noch sporadisch, findet sich auch auf dem neuen Album, etwa, wenn es heißt: „The norm is not normal / It’s a construction designed / To stifle the inner life and increase production“. Ach so – nun denn.
Zu finden sind diese Zeilen im Trap-inspirierten Song „Statue in the Square“. Auch aus dem Refrain, untermalt von HipHop-typischen Sirenen, trieft Pathos: „They never wanted people like me round here / But when I’m dead, they’ll put my statue in the square“.
Empfohlener externer Inhalt
Kae Tempest „Diagnoses“
Weitestgehend schafft Tempest jedoch in der Musik einen persönlicheren Zugang, gerade bei gesellschaftspolitischen Themen. Etwa in der durchaus ernsthaften Auseinandersetzung mit der Frage, ob man Kinder in diese Welt setzen soll: „How can I battle the ego that tells me to multiply, multiply, make yourself many / With the wisdom that says – don’t do it“ – zu finden im Nineties-Pop-Track „Bless the Bold Future“.
Wie ein Westernabspann
Manchmal blitzt auch einfach ungewohnter Humor durch, etwa beim Auftaktsong „I Stand on the Line“. Die ersten Takte klingen so sehr nach der Abspannmelodie eines Westerns, in dem der Held in den Sonnenuntergang reitet, dass das nur selbstironisch gemeint sein kann. Die Trans-Formation als Heldengeschichte – zumindest auf musikalischer Ebene klingt das so.
Statt ambienthaften HipHop-Beats und einer eher düsteres Grundierung für Tempests Spoken-Word-Kaskaden gibt es diesmal Popsongs mit prägnanten, bisweilen latent kitschigen Hooklines. Auch ein schwelgerisches Liebeslied – „Sunshine on Catford“ – hat es aufs Album geschafft.
Erstmals hat Tempest mit dem Hit-Produzenten Fraser T. Smith gearbeitet, unter anderem bekannt für seine Zusammenarbeit mit Stars wie Adele und Stormzy. Als die beiden sich über die musikalische Richtung des Albums austauschten – so erzählte Tempest es unlängst dem britischen Musikmagazin NME –, ging es um die Frage, welche Geschichte nur Tempest und niemand sonst erzählen könne.
Und das sei nun mal die Geschichte der Trans-Formation. Dass diese Songs aber mehr sind als eine Nabelschau, liegt daran, weil Tempest auch hier elliptisch arbeitet: etwa wenn es um den Austausch mit einem jüngeren Selbst geht. Kein identitätspolitisches Einmauern, satt dessen Befreiungsschläge in viele Richtungen. „Self Titled“ klingt, als habe Tempest sich künstlerisch freigespielt.
Währenddessen wachsen die gesellschaftlichen Aufgaben. Erst im vergangenen April beschnitt das Oberste Gericht in Großbritannien die Rechte von trans Menschen durch ein wegweisendes Urteil, welches das Konzept von Geschlecht als binär definierte. „With all the problems that we have to contend with – Why are trans bodies always on the agenda?“, fragt Tempest. Was, nicht zuletzt in einem breiteren Kontext der Kulturkämpfe, die aktuell ausgefochten werden, eine wirklich berechtigte Frage ist.
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