Neues Album der Band Hiatus Kaiyote: Melonen neben Rasierklingen
Der Sound der australischen Band klingt virtuos und dynamisch, aber nie verkopft. Ihr Album ist eine großartige Einladung.
Wer möchte da nicht einkaufen? Vor dem neu eröffneten Supermarkt LHCC tanzt jemand als lebendes Artwork in violettem Plüschoutfit. Drinnen wird neben meterweise Ananas noch mehr versprochen: Gemeinschaft! Kundenservice! Freundschaft! „LHCC is so much more than your local supermarket!“ grinst „CEO“ Simon Marvin neben seinen Bandkolleg:innen Naomi „Nai Palm“ Saalfield, Paul Bender und Perrin Moss in dem augenzwinkernden Werbespot, getränkt von der Ästhetik der 1990er Jahre.
So also könnte er aussehen, der Supermarkt für die ganze Familie. Einer solchen Fiktion gibt sich die australische Band Hiatus Kaiyote zumindest in ihrem Videoclip hin. Der Name LHCC ist ein Akronym für „Love Heart Cheat Code“, Titel des vierten Studioalbums der stark jazz-, soul- und funkaffizierten Combo aus Melbourne, die schon von Popgiganten wie der Beyoncé-Jay-Z-Fusion The Carters und den HipHop-Streithähnen Kendrick Lamar und Drake gesampelt wurde.
Ironisch ist der Videoclip vor allem auch, weil das Quartett um Sängerin Nai Palm nie auch nur ansatzweise konfektioniert klingt. Tempowechsel, vertrackte Rhythmen, abrupte Ab- und Ausbrüche, grazile Harmoniken, dazu Nai Palms unverwechselbarer Gesang: Alles am Sound von Hiatus Kaiyote klingt virtuos, dynamisch und breit, dabei aber nie verkopft. Seit Bandgründung 2011 hat die Band die konzentrierte Epik für sich gepachtet.
Verträumt, witzig, fluide
Los geht es auf „LHCC“ mit dem Auftaktsong „Dreamboat“: „Here I am / Dreamboat, take me home“, singt Nai Palm fast opernhaft über einen verträumten Soundteppich. Die musikalische Heimat der Band muss irgendwo zwischen dem Pazifischen Ozean und jenem Ort hinter dem Licht der Zwillingsgalaxien liegen, die im dahingroovenden „Telescope“ besungen werden.
Empfohlener externer Inhalt
Die vier wissen sehr wohl, dass sie fantastische Mucker sind, sublimieren das aber eher selten in instrumenteller Prahlerei. Meist ergehen sie sich in so komplexen wie eingängigen Kompositionen – und in Humor. „Longcat, he is the longest cat in the world“ singt Nai Palm und beamt damit die Vorstellung eines schlauchartigen Comic-Vierbeiners in den Kopf.
Zwei Songs später dann, bei „Cinnamon Temple“, fällt einem die Kinnlade herunter. Was sind das für Sounds? System of a Down im Nujazz-Krawallmodus? Der musikalische Bogen, den Hiatus Kaiyote auf „LHCC“ aufmachen, ist breit. Vieles geht direkt in den Kopf und in die Hüfte, eine Zeile bleibt besonders hängen: „You don’t make friends, you recognize them“, ein Zitat aus dem Songtext „Make Friends“.
Hiatus Kaiyote: „Love Heart Cheat Code“ (Brainfeeder/Rough Trade)
Aus den Worten eines Freundes ist ein Song gewachsen, dem das Fluide eingeschrieben ist. Nai Palm wiederholt die Strophe als geschlechterwandelndes lyrisches Ich aus weiblicher, männlicher und nicht-binärer Perspektive: die (platonische) Liebe zu Freund:innen aller Gesinnungen als Verbindendes.
Hiatus Kaiyote zelebrieren in ihrer Musik einen produktiven Kollektivismus. Die elf Songs sind wieder gemeinsam entstanden. Komplementiert wird der Freimut des Quartetts durch Gäste aus der Melbourner Musikszene, wie dem Flötisten Nikodemos und Taylor „Chip“ Crawford, der ein Frello spielt, ein von ihm selbst erfundenes Cello mit Bünden und Federhall.
Die Regale in dem Supermarkt, die die vier Musiker:innen befüllen, kann man sich als improvisiert geordnetes Chaos vorstellen. Melonen neben Rasierklingen, Bier in der Fleischtheke.
Dass das Album mit einer herrlich verspulten, psychedelisch potenzierten, industrial angehauchten Version von Jefferson Airplanes musikalischem LSD-Trip „White Rabbit“ endet, bestätigt final: ein quietschbunter Supermarkt für alle!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland