Neuerung des Videobeweis: Schiris zum Kasper machen
Die Premiere mit Schiedsrichtern am Stadionmikrofon bleibt aus. Ein Glück für die Betroffenen! Die Idee bringt weder Transparenz noch andere Vorteile.
D ortmunds Interimstrainer Mike Tullberg hat einiges dafür getan, als glücklichster Mensch dieses Bundesligaspieltags zu gelten. Seine exaltierten Freudengebärden nach dem Sieg in Heidenheim vor der Dortmunder Kurve werden noch lange eine Erinnerung bleiben. Nicht weniger glücklich muss man sich jedoch die beiden eher stillen Genießer Florian Exner und Tobias Reichel vorstellen.
Die beiden Schiedsrichter waren für den ersten VAR-Testlauf in der ersten Liga auserkoren. Hätte der Videobeweis bei den Bundesligabegegnungen zwischen Bayer und Kiel oder zwischen St. Pauli und Augsburg eingegriffen, wäre folgende Premiere zwangsläufig erfolgt: Exner und Reichel hätten an das Stadionmikrofon treten und dem Stadionpublikum eine Erklärung bieten müssen, weshalb sie auf Zuruf der VAR-Schiedsrichter und nach Studium der Videobilder zu welcher auch immer gearteten Entscheidung gekommen sind.
Dieses neue Verfahren soll bis zum Ende der Saison getestet werden, und die Deutsche Fußball Liga begründet die Maßnahme damit, dadurch mehr Transparenz zu schaffen. Ein dürftiges Argument, weil lediglich nun hörbar gemacht wird, was dem Publikum in vielen Stadien schon über die Stadionanzeigetafel schriftlich erklärt wird. Warum die unter hohem Belastungspuls stehenden Referees das auch noch selbst übernehmen müssen, bleibt selbst erklärungsbedürftig.
Aufs Blut gereizte Publikum
Erst entmachtet die DFL die Schiedsrichter, indem die Illusion erzeugt wird, im Fußball könne mit dem Einbezug von technischen Hilfsmitteln eine objektivierbare Gerechtigkeit hergestellt werden. Und dann müssen genau diese sich auch noch zum Kasper machen und einem möglicherweise bis aufs Blut gereizten Publikum erklären, weshalb der Spieler des Heimteams bei Betrachtung aus sieben Perspektiven und fünf Zeitlupen dann eben doch seine Hand dazu benutzt hat, seine Körperfläche zu vergrößern, und ein Elfmeterpfiff alternativlos ist.
Die DFL hat sich an der National Football League in den USA orientiert. Dort kommunizieren die Schiedsrichter seit 1975 mit dem Publikum. Was bei dem Transfer nun nicht bedacht wurde: die andere Zuschauerkultur sowie die unter deutschen Fußballfans teils starke Ablehnung der derzeitigen Handhabung des Videobeweises.
Zu häufig bewegen sich Entscheidungen in einem nicht nachvollziehbaren Graubereich. Florian Exner und Tobias Reichel haben noch einmal Glück gehabt.
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