Neuerscheinung zur Holocaust-Forschung: Idylle neben dem Massenmord
Mit dem Nachlass des stellvertretenden Kommandanten Johann Niemann fanden sich erstmals Fotos aus dem NS-Vernichtungslager Sobibor.
Zu sehen ist auf den ersten Blick eine Idylle. Hübsche kleine Siedlungshäuschen mit spitzen Dächern stehen dicht beieinander. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf: Das Gelände wird von einem doppelten Zaun abgegrenzt. Zwischen diesen Zäunen patrouilliert ein Wachmann. Und auf einem zweiten, ähnlichen Bild erkennt man zwei nebeneinander im Wind flatternde SS- und Hakenkreuzflaggen.
Zwischen diesen beiden Flaggen, so zeigt es das dritte Bild, steht ein rechteckiges Schild, darauf geschrieben: „SS Sonderkommando“. Der Zaun, der sich links und rechts eines engen Zugangs in den Komplex erstreckt, ist kaum zu erkennen, denn er ist als Sichtschutz mit Kiefernzweigen getarnt.
Dies ist kein Ferienlager der NS-Volkswohlfahrt. Diese und 48 weitere von insgesamt 361 Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen das Vernichtungslager Sobibor, eine Mordstätte im besetzten Polen, wo die SS 1942 und 1943 geschätzt 180.000 Menschen umbrachte, fast ausschließlich Juden. Sobibor zählte zusammen mit Belzec und Treblinka zu den Lagern der „Aktion Reinhardt“, in denen etwa 1,8 Millionen Menschen ermordet wurden. Es sind abgesehen von nur zwei Fotos die ersten Bilder überhaupt, die wir aus Sobibor kennen.
Die NS-Geschichte scheint 75 Jahre nach ihrem Ende weitgehend aufgearbeitet, und immer ist Vorsicht angebracht, wenn Veröffentlichungen mit dem Wort „Sensation“ daherkommen. Doch diese Bilder und dieses Buch zeigen tatsächlich etwas, was bisher verborgen geblieben ist.
Einerseits beweisen die Fotos wie die aus dem „Vorlager“ von Sobibor, wo die deutschen SS-Männer ihre Unterkünfte hatten, dass das Vernichtungslager vom äußeren Anschein so gar nicht den uns eingeprägten Bildern riesiger Barackensiedlungen entsprach.
„Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus“. Herausgegeben vom Bildungswerk Stanisław Hantz und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Metropol Verlag, Berlin 2019, 382 Seiten, 29 Euro
Anderseits legen die Herausgeber mit dem Band nach jahrelanger akribischer Kleinarbeit ein Buch vor, das die Karriere eines SS-Täters vom Wachmann in den KZs Esterwegen und Sachsenhausen mit Zwischenstation in der NS-Ausbildungsstätte Vogelsang über seine Teilnahme am T4 genannten Mordprogramm an Behinderten bis zu seiner Tätigkeit als stellvertretender Lagerkommandant von Sobibor nachvollziehbar macht. Dieser Mann hieß Johann Niemann, getötet mit einer Axt am 14. Oktober 1943 beim Aufstand der Häftlinge von Sobibor.
Die Bildersammlung – mehrere Alben und Einzelfotos, zusammen 361 Fotos, dazu zeitgenössische Dokumente – entstammen dem Nachlass Niemanns. Ein Nachfahre hat die Fotos gefunden und einer Veröffentlichung zugestimmt. Die Sammlung blieb wohl auch deshalb so komplett erhalten, weil der Tod des Täters 1943 verhinderte, dass dieser nach dem Krieg seine Erinnerungen bereinigen konnte. Das Konvolut wird künftig im US Holocaust Memorial Center in Washington, D. C. aufbewahrt.
Die deutschen Mörder wollten es sich in der Fremde offenbar so gemütlich wie nur möglich machen und quasi ein Stück Heimat mitbringen. Zu der Sammlung zählen Bilder fröhlicher Runden von SS-Männern – und einiger weiblicher Helfer – vor einem Kasino genannten Gebäude. Es sind friedliche Fotos, sorgfältig inszeniert, die die Männer bei ihrer Freizeitgestaltung zeigen.
Die Fotos eröffnen neue Fragen: Dienten die niedlichen Unterkünfte, die Blumenbeete und der überwachsene Stacheldraht der Tarnung, um die Opfer bis in die letzten Minuten in Sicherheit zu wiegen, oder waren sie nicht in erster Linie Teil des Wunschs der Täter nach Heimat in der Fremde?
Die Texte des Buchs, herausgegeben von Martin Cüppers von der Universität Stuttgart und Mitarbeitern des Bildungswerks Stanisław Hantz, sind vorbildlich recherchiert. Cüppers selbst sieht in den Fotos einen „visuellen Quantensprung“ für die Erforschung von Sobibor wie der „Aktion Reinhardt“. Yoram Haimi, der viele Jahre auf dem Gelände des Vernichtungslagers archäologische Ausgrabungen geleitet hat, nennt die Veröffentlichung ein „unglaubliches Album“. Er habe „keinen Zweifel, dass das Buch für unsere Forschungen von großer Bedeutung ist“, schreibt Haimi der taz.
„Ein sehr gutes Buch“, erklärt auch der auf die „Aktion Reinhardt“ spezialisierte Holocaust-Forscher Stephan Lehnstaedt vom Berliner Touro College. Vermissen ließe sich allenfalls eine nähere Untersuchung dessen, was die Herausgeber „Inszenierung“ und „Schnappschüsse“ nennen. Warum bildeten die Täter genau das ab? Wieso finden sich keine Fotos etwa von der Umgebung? Hier sei „das Potenzial nicht ausgeschöpft“ worden, moniert Lehnstaedt.
Anders als bei Konzentrationslagern ist von der Mordstätte Sobibor – wie auch von Treblinka und Belzec – nach 1943 so gut wie nichts übrig geblieben. Die Täter selbst sprengten die Gaskammern, bauten die Zäune ab, rissen die Baracken nieder und ließen rasch wachsende Kiefern auf dem Gelände anpflanzen. Nichts sollte an die „Aktion Reinhardt“ erinnern. Dazu zählte auch ein striktes Fotografierverbot für das SS-Personal. Die Bilder zeigen, dass sich keineswegs jeder daran gehalten hat.
In groben Zügen war die Topografie Sobibors aus Augenzeugenberichten von Überlebenden und archäologischen Grabungen bekannt. Auch existieren aus Auschwitz und Treblinka ähnliche, von SS-Tätern angelegte Alben. Dennoch überraschen diese Fotos mit ihren Details, wie dem gedeckten Brunnen zwischen den Häuschen, dem SS-Mann mit Akkordeon und den angetretenen ausländischen Helfern, aufgrund ihrer Ausbildungsstätte Trawnikis genannt und im Lager für die Drecksarbeit zuständig.
Zu Letzteren zählte auch Iwan Demjanjuk, der 2011 in München wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden ist. Auf zwei der Fotos meinen die hinzugezogenen Experten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg den Ukrainer identifiziert zu haben.
Allerdings haben die Fotografen – es handelte sich um Kameraden Niemanns – es sorgfältig vermieden, ihren eigentlichen Tätigkeitsbereich abzubilden. Es gibt keine Fotos von der Rampe am Bahnhof, von der die Gefangenen unter Einsatz brutalster Gewalt in das Lager getrieben wurden, nichts von dem Platz, wo sie sich ausziehen mussten, kein Bild von dem „Schlauch“ genannten Weg, den sie rennend und nackt zurücklegen mussten, auf dem Weg zu den Gaskammern, von denen ebenfalls eine Abbildung fehlt, ebenso wie von den großen Massengräbern und Verbrennungsstätten unter freiem Himmel. Der Massenmord bleibt ausgespart.
Dafür erfahren wir einiges über die Obhut, die die SS im fernen Berlin ihren Männern angedeihen ließ. Dazu zählt ein Album, das einer Art Betriebsausflug in die Reichshauptstadt gewidmet ist, den Niemann zusammen mit anderen Mördern per Bus unternehmen durfte, aber auch die Fotos von seiner eigenen Trauerfeier in Chełm, die die Witwe zugesandt bekam.
Schließlich verraten die Dokumente noch einen anderen Aspekt des Holocausts: die hemmungslose Bereicherung. In den Sparbüchern der Ehefrau Henriette Niemann und ihres Vaters, armer Bauern im ostfriesischen Völlen, fallen ab 1942 enorme, bar eingezahlte Summen auf. Mal waren es 800, mal sogar 3.000, in der Summe etwa 40.000 Reichsmark, die auf verschiedenen Konten landeten, damals eine exorbitante Summe. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Das Geld stammt aus dem Raub an den ermordeten Juden in Sobibor, die der treu sorgende Ehegatte seiner Familie bei seinen seltenen Besuchen mitgebracht hat.
Die Währungsreform 1948 sorgte zumindest hier für ein kleines bisschen Gerechtigkeit. Der große Batzen Raubgeld schmolz danach auf etwa 400 D-Mark zusammen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!